Maske

Wir treffen uns in einem Kaffee mit Bäckereibetrieb. Wir bestellen Süsses und trinken dazu Kaffee. Die Älteste von uns hat seit längerem eine unkontrolliert zitternde Hand. Eine Tasse halten wird immer schwieriger. Sie sagt, indem sie ihr Handicap vorführt: «Das ist einfach ein Mist.»

Wir reden weiter – eigentlich ist es eher ein sich ärgern über Flugpreise, Wetter, das anders als die Prognosen ist und über schrumplige Haut, die unter dem Badeanzug nicht mehr kaschiert werden kann.

Das Gespräch plätschert zwischen Ernsthaftigkeit und Schalk hin und her, bis wir dann doch noch beim eigentlichern Thema unseres Zusammenseins landen. Nämlich über eines meiner Projekte, was bei einem Mitmachen unter anderem bedeuten würde, öffentlich zur eigenen Homosexualität zu stehen. Die Älteste sagt: «Ich weiss, mein Leben ist ein Fake. Aber ich habe keine Lust, mich zu outen. Ich wurde auf Grund von Vermutungen schon genügend verletzt.“

Mir fällt schwer, das ehrliche Statement einfach so stehen zu lassen. Ich erzähle von Röbi und Ernst, über die ich die Biographie «Verborgene Liebe» geschrieben habe. Ernst, im selben Alter wie sie, war Lehrer und lebte während seiner Berufszeit sein homosexuelles, sein wirkliches Leben aus Angst vor Repressionen bloss im Versteckten. Allerdings wurde er, im Gegensatz zu ihr, nach seiner Pensionierung politisch aktiv und engagiert sich seitdem öffentlich für die Gleichstellung homosexueller Menschen.

Sie kreuzt ihre Arme, legt die Hände schützend auf die Schultern und schüttelt dazu verneinend den Kopf. Ich schweige, weil ihre Augen mehr sagen als «mein Leben ist ein Fake».

Ich akzeptiere, dass es in diesem speziellen Lebensbereich, wo in vielen Ländern gleichgeschlechtliche Partnerschaften gesetzlich nicht mehr strafbar sind, dennoch Menschen gibt, die sich nicht trauen, ihr Leben zu leben – trotz hohem Alter.

Nach unserer Verabschiedung bin ich einfach nur dankbar, dass ich ohne verfälschende Maske tragen zu müssen, seit Jahrzehnten durchs Leben wandere ohne grössere Verletzungen (diesbezüglich) und mit meiner wirklichen Biografie alt werden kann.

verschiedene Welten

IMG_2026Mein Hin-und-Her (siehe gestern), das Pendeln zwischen «da und dort – dort und da» hat viele schöne Seiten. Zum Beispiel mein «Käfeli» gleich ums Eck, da wo ich in Zürich wohne. Hier, im «Café du Bonheur», machte ich Halt, als ich am Montag nach Verlassen der «Hafenstadt Romanshorn» in der Stadt landete, wo einmal ein rostiger Hafenkran aus Rostock temporäres Kunstwerk war.

Bevor ich überhaupt meinen Briefkasten leere, wo sich Zeitungen der letzten vier Tage zu Altpapier stapeln, setze ich mich in mein Kaffee des Glücks, wie «bonheur» nicht nur in der Übersetzung heisst. Hier kennt man mich. Die Bedienung fragt, als ich bestelle: «Möchtest du die Zeitung dazu?» und bringt mir gleich beide Zürcher Tageszeitungen. Das ist auch Heimat. Wenn ich mir dazu noch eine Zigarette, die ich mir gegen 50 Rappen aus dem Glas nehme, zwischen die Lippen stecke und sie rauche, ist dies für mich ebenfalls richtiges «bonheur». Und wenn ich dann noch unverhofft Bekannte erblicke, denke ich, das Hin-und-Her hat viele gute Seiten.

Und tatsächlich treffe ich zwei Bekannte nach deren Arzttermin. Sie, die Mutter meines Nachbarn. Er, der langjährige Freund der Mutter. Die Pensionierten, beide über 70, haben dieses Mal mir unvertraute Rollen. Nicht sie, sondern er geht an Krücken. Mit einer schweren Vergiftung lag er während 14 Tagen im Spital. Nun pflegt sie ihn – auch dies ist für beide eine unverhofft neue Rollenverteilung. Er sagt, halb scherzend: «Sie ist eine gute Nanny». «Diesen Part», antworte ich, «hast du ja schon oft übernommen.» Und sie, die Bekannte, atmet tief durch: «Ja, das Alter.»

Als sie, gut aufeinander achtend, weitergehen, wende ich mich erneut der Zeitung zu. Ich lese von Patty Smith‘ Auftritt, dem «kompromisslosen Konzert» am «Paléo Festival». Am Ende habe die powervolle 68-jährige in Publikum gerufen: «Öffnet eure Hände, denn ihr seid frei!»

Wie verschieden Welten sein können, speziell im Alter.

Zu Hause krame ich aus der Schublade eine schon lange nicht mehr gespielte CD von ihr und Patty Smith rockt für mich mehrmals überlaut: «RAVENS». Wie sagte Louise Bourgeois?: «Ich brauche meine Erinnerungen. Sie sind meine Dokumente».

erinnern (3)

Mit: «Du musst immer hin und her», verabschiedete mich meine Lebenspartnerin am Montagmorgen, als ich nach vier Tagen Ostschweiz wieder nach Zürich fahre – von ihrem Lebenszentrum in meines. Dies ist unsere Realität. Denn sie ist durch ihre Berufsarbeit ortsgebunden. Ich nicht – auch als ich, als Ausbildnerin mit einem Jahrespensum von 50 Prozent und blockweisen Einsätzen in der Fernsehwelt aktiv war, war das Pendeln für mich mit sehr viel weniger Aufwand verbunden, als für sie.

Und nun, da ich theoretisch bei Doris bleiben könnte, steige ich am vergangenen Montagmorgen kurz nach sieben Uhr trotzdem in den Zug und fahre nach Zürich, um wenige Tage später wieder zurück zu kehren. That’s life.

Ich antworte Doris beim Umarmen: «Typisch Zwilling – immer hin und her!» Nein, selbstverständlich finde ich es nicht immer so locker, wie es klingt. Oft fällt mir das Gehen schwer. Oft auch nicht, weil wir beide wissen: Jede braucht ihren Raum, um unabhängig von der Andern ihren Rhythmus leben zu können. Zudem schenkt uns – und ich meine explizit uns – die temporäre, geographische Distanz auch Nähe, Tiefe, zusätzlichen Austausch und manchmal auch Entspannung in gewissen Bereichen, die konstante Nähe nicht mit sich bringen würde.

«Anyway», würde nun meine Zürcher Freundin sagen, über die ich in «diesig» schrieb, um Gesagtes, beziehungsweise Geschriebenes zu beenden. Auch ich lasse es dabei bewenden. Denn das Hin-und-Her hat, wie alles im Leben, nicht nur Nachteile sondern auch Vorteile.

Ich habe mir angewöhnt, meine Fahrten von da/dort nach dort/da – manchmal weiss ich gar nicht mehr, was «da» und «dort» ist, weil nach sieben Jahren beides auch ein «Da» ist – zu dokumentieren. Ich fotografiere aus dem Zug Stimmungen, Situationen und jahreszeitliche Veränderungen der Natur. Dazu ein Satz-Zitat aus Ulf Küsters Buch «Louise Bourgeois», der  Skulpteurin, die fast 100-jährig wurde: «Ich brauche meine Erinnerungen. Sie sind meine Dokumente».

Montagmorgen, 27.7.2015: «Hafenstadt Romanshorn»

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Freitagabend, 3.9.2010: Unterwegs mit meinem ersten Buch von da/dort nach dort/da

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Freitagnacht, 26.10.12: Unterwegs mit meinem zweiten Buch von da/dort nach dort/da

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Samstagmittag, 27.12.2014: weiss

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erinnern (2)

«Ich danke dir dann noch!» – «Ja, wofür denn?», frage ich nach. «Für die Karte aus Island», sagt meine langjährigste Freundin, als ich mit ihr telefoniere.

Ich kann kaum glauben, dass diese erst gestern in ihrem Briefkasten gelandet ist. Denn meine langjährigste Freundin gehörte zur ersten Postkartenrunde, die ich, kaum in Island angekommen, für meine Liebsten schrieb, die mich zu Hause gedanklich begleiteten – dazu gehörten meine Lebenspartnerin, Schwester und Schwager und auch sie. Alle hatten sich bereits darüber gefreut, ausser sie.

Um ehrlich zu sein: Ich dachte deshalb, dass sie nach meiner sieben wöchigen Abwesenheit einfach vergessen hatte, sich für die Zeilen zu bedanken, weil ich dabei von mir aus ging. Schon oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass mich mein Gedächtnis im Stich lässt. Erst behauptete ich: «Nein, nie gehört!», oder: «Nein, nie gesehen!», bis dass das «verlorene» Objekt, wie aus einem Nebel, in einer Langsamkeit aufzutauchen begann, um sich im aktiven Bewusstsein wieder festzukrallen. Inzwischen habe ich aus solch komprimitierenden Situationen gelernt. Ich versuche, nicht zu schummeln und offen zu deklarieren, dass ich mich nicht mehr erinnere.

Nun – bloss nicht auf Panik machen. Bei meiner Vergesslichkeit handelt es sich um eine absolut normale Folge des Älterwerdens, die ich, bis sie mich selber traf, nur vom Hörensagen kannte. Vergesslich war ich nur in Sachen Literatur und Film – kaum gelesen, kaum gesehen war vieles schon wieder vergessen.

Tatsache ist allerdings, dass Alter oder grosser psychischer Stress immer wieder mal unkontrolliert die «delete»-Taste betätigen. Manchmal schafft man es, unter Anstrengung, zurückzuholen, was verloren ging. Schön wäre, wenn das menschliche Hirn, wie ein Computer auf die Tasten-Kombination «command»/ «z» reagieren würde. Tut es aber nicht.

Zurück zur Karte, der es nicht viel anders ergangen ist als mir: Sie benötigte, um anzukommen, einfach ihre eigene Zeit – so wie ich. Wir beide – sie und meine Seele – haben sich praktisch gleichzeitig im Briefkasten Schweiz, wo alles kleiner und enger ist, eingefunden. Und Island, das bereits seit mehr als vier Wochen Vergangenheit ist, bleibt an beiden haften – als Bild, als Erinnerung und bei mir nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen.

neue Welten (2)

In der mir neuen Bloggerwelt nutzen Menschen diese Plattform, um andere, so wie mich, an ihrer Welt teilhaben zu lassen. Oft ist es inspirierend. Oder hinterlässt Fragen, öffnet Gedanken. Manchmal teile ich meine Überlegungen den Schreibenden mit und erhalte darauf oft eine Antwort – quasi im klassischen (Blog)dialog mit der neuen Welt.

Susanne Haun, zum Beispiel: Sie lebt und arbeitet in Berlin als bildende Künstlerin. Ihr Blog beinhaltet unter anderem ihre Zeichnungen, die Entwicklungen von Entstehungsprozessen, Gedanken, die sie sich zu Ausstellungen (auch eigenen) oder Zeichnungen macht. Durch den Click auf die jeweils aktuellste Seite wird man verführt – ich jedenfalls -, sich durch die Verlinkungen noch tiefer (oder weiter) zu clicken, um noch mehr Unbekanntes zu entdecken.

Oder «Schnippelboy»: Unter diesem Namen erscheinen täglich ein bis mehrere Rezepte für Gerichte (oft vegetarische). In einer Fotoserie wird der Entstehungsprozess Schritt für Schritt aufgezeigt. Einfach originell. Wer «Schnippelboy» ist, weiss ich nicht. Ich konnte nur lesen, dass er oder sie, die Rezepte für ihre / seine Enkel und für alle andern Interessierten via Blog öffentlich macht. Diese Seite hat inzwischen gegen 33’000 «Hits» (Aufrufe) generiert.

«itravelmylive» – ist der Blog von Marcel. Er, noch keine 20 Jahre alt, reist fürs Leben gern. Unlängst war er mit Mutter, Grosseltern und Tante im Zug nach Hamburg unterwegs, um seinen Bruder, einen Koch, zu besuchen. Er beschreibt in wenigen Zeilen und manchmal auch mit Fotografien seine Reisen und freute sich unlängst riesig, dass er nun auch noch auf Youtube einen eigenen Reisekanal hat. Einfach süss.

«Lyrikzeitung & Poetrynews». Täglich gibt es irgendwelche Geschichten aus der im Titel genannten Welt. So weiss ich nun, dass die Schreibmaschine anhand derer russische Dissidente verbotene Bücher abschrieben, «Erika» heisst. Ihr Anschlag ist so hart, dass durch ein einziges Mal abtippen gleich sechs Kopien entstanden. Oder, dass im Osten verbotene Musik, mangels anderer Tonträgermöglichkeiten, auf Röntgenaufnahmen kopiert und unter die Leute gebracht worden ist.

Oder «kreuzberg süd-ost»: Die Katastrophenchronistin «tikerscherk», wie sich die junge Bloggerin nennt, erzählt Geschichten aus ihrem Beobachtungsrevier – extrem gut und innovativ geschrieben. Bereits werden ihre Blogs im «deutschen literaturarchiv marbach» langzeitarchiviert.

Es gäbe noch einiges über so manches zu berichten. Ja, vielleicht noch dies: es macht Spass, Unbekanntes aus neuen Welten aufzusaugen wie ein angetrockneter Schwamm, oder eben wie eine Bloggerin.

Intermezzo

Am Freitag hat mich meine langjährigste Freundin in Romanshorn besucht. Das macht sie nicht oft, aber immer wieder. Spontan hat sie, kurz nach ihrer Ankunft am Bahnhof, einer Facebook-Freundin telefoniert, die ebenfalls hier wohnt. Der Anruf blieb nicht ohne Folgen.

Wir verbrachten zu dritt – und später dann zu viert, als Doris nach der Arbeit ebenfalls dazu kam – einen angeregten Nachmittag mit Baden und Reden in der «Hafenstadt Romanshorn», wie der Ort im Internet etwas tollkühn für sich wirbt. Wenn man dies liest, könnte man ja meinen, man befände sich am Zugang zur Welt. Dabei liegt die Ortschaft – ebenfalls auf der Homepage nachzulesen: «Im Herzen von <Mostindien> und einer intakten Natur. Hier kann man sich <daheim> fühlen: Die Versorgung ist ausgezeichnet, die soziale Infrastruktur stimmt …».

Ja, so haben wir Romanshorn gestern auch erlebt. Ohne dass wir uns zuvor gekannt hätten, war das Zusammensein – wir drei, die uns bereits vertraut waren und der noch unbekannten Facebook-Freundin – ungezwungen. Jedenfalls beschossen wir den Abend bei Bier und Pizza ausklingen zu lassen. Erst als meine Freundin wieder auf dem Heimweg nach Rapperswil war, tobten Gewitter, Sturm und Regen über die «Hafenstadt».

Doch diese Episode wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Versprochen hatte ich gestern, über die Entdeckungen in der Blogwelt zu schreiben. Da es aber damals für die Entdeckung der Neuen Welt Amerika als Ausgangspunkt einen Hafen in der Alten Welt brauchte, dachte ich mir, da liegt auch das Intermezzo mit der «Hafenstadt Romanshorn» drin. Jedenfalls habe ich gestern auch eine neue Blogleserin gewonnen!

Fortsetzung folgt.

neue Welten (1)

Als ich diese Woche mit meiner Zürcher Freundin, die zwar fünf Jahre älter ist als ich, aber erst seit einem halben Jahr im sogenannten Ruhestand lebt, an der Langstrasse in einem italienischen Restaurant sitze, kramt sie aus ihrer Tasche alte «DIE ZEIT»-Artikel, die sie speziell für mich aufgehoben hat. Der eine ist eine kritische Auseinandersetzung über die Glaubwürdigkeit des Journalismus und der andere eine Reisereportage über Island. Es freut mich, dass sie während des Lesens dachte, es könnte mich interessieren. Zum Reiseartikel meine ich, dass das Zeitungs-Island nicht meines sei. Denn vor meiner Auszeit im Norden habe ich manchen Artikel gelesen – fast in jedem wurden dieselben Orte beschrieben. Jedenfalls war ausser Reykjavik und Stykkishólmur keine Destination dabei, die auf meiner Route lag. Kein Wunder, dass die beiden erwähnten Städte am Überquellen sind.

Meine Freundin macht mir an diesem Abend einmal mehr ein Kompliment. Sie liebt meine Blog-Geschichten – allen vorab diejenige, die sie selbst betrifft («diesig», vom 8. Juli). Zudem meinst sie, dass sie es ganz toll finde, dass ich mich nach meiner Pensionierung sogleich Neuem zuwenden würde und nicht erst Altes abarbeite.

Damit liegt sie richtig – etwas präziser: auch richtig.

Bloggen ist für mich etwas ganz Neues. Früher, als junge Berufsfrau, schrieb ich jeweils Zeitungsartikel und Filmkommentare. Die Erinnerung daran: Es war fast immer ein Krampf, ein Ringen um Aufbau und Sätze. Erst viel später, als ich zum Buchschreiben fand, kam eine gewisse Leichtigkeit ins Schreiben, trotz der Schwere der Themen.

Und nun habe ich das Blogschreiben entdeckt. Es ist für mich etwas total Neues, so wie es meine Freundin wahrgenommen hat. Es bietet mir allerdings auch eine tolle Möglichkeit, vieles zu reflektieren – auch altes. Und: es ist vor allem eine totale Herausforderung.

Beim Schreiben setze ich mir Ziele: Ich will eine Alltags-Geschichte erzählen. Es soll persönlich (nicht zu verwechseln mit intim), kompakt (nicht länger als 350 Worte), locker erzählt sein und unvorhergesehene Wendungen enthalten. Ich nehme mir jeweils auch vor nicht länger, als bis zu zwei Stunden am Text zu arbeiten.

Nun habe ich bereits 330 Worte erreicht. Deshalb: morgen mehr. Nämlich: Durchs Bloggen entdeckte ich auch neue Welten. (Exakt 347 Worte bis anfangs Klammer).

out

Eine weitere Alltagsgeschichte aus der jüngeren Vergangenheit:

«Ja, Sie dürfen stören», sage ich, obwohl ich an Stimme und Telefonnummer sofort erkenne, dass es sich um eine Umfrage handeln muss. Die bemüht, nett klingende Frau erklärt gut verständlich, dass es um eine Befragung zu den schweizerischen Radios gehe. Dieser Hinweis weckt mein Interesse, schliesslich handelt es sich dabei um eine, mir mehr als vertraute Sparte. Ich mache es mir innerlich bequem, stelle mich aufs Antwortgeben ein und warte deshalb gespannt auf die erste Frage.

«Zählen Sie zur Kategorie 15- bis 44-jährig?», fragt die Frau aus Deutschland. – «Nein.»

«Wie alt sind Sie dann?» – «64.»

«Gibt es in ihrem Haushalt Mitglieder, die zu dieser Kategorie zählen?» – «Nein.»

«Ja, dann wär es das bereits gewesen», sagt sie in einem wesentlich schnelleren Tempo. Sie  hängt auf. Ich bin Out; kein Objekt mehr des Interessens – und das, obwohl ich mehr Radio- als TV-Programme konsumiere. Ich ärgere mich. Nur weil ich zur Kategorie der dauerferien gehöre, bin ich noch lange nicht unattraktiv.

Eine Freundin hat mir, dies liegt erst einige Tag zurück, eine ähnliche Geschichte erzählt: Ein Grossverteiler hätte nur bis 64-jährige befragt. Ihre Kategorie – 68 Jahre alt – habe es auf dem Umfragebogen gar nicht gegeben.

Und meine ebenfalls 68-jährige Schwester erzählte mir unlängst ebenfalls, dass sie inzwischen das Gefühl habe, für die Gesellschaft nicht mehr interessant zu sein.

Da sich, wie in «Weisses 2» vom 6.7. beschrieben, die demografische Kurve innerhalb der nächsten dreissig Jahre von einer «Tanne» zu einer «Urne» entwickeln wird, ist nicht zu unterschätzen, dass der immer grösser werdende Anteil an «Alten» nach wie vor eine der (kauf)kräftigeren Kategorien sein wird – ganz abgesehen von den moralischen Werten, die WIR zu bieten haben. Doch möglicherweise ist es bezüglich Alter ähnlich wie bei vielem andern auch: Nachteile, die letztlich auch Vorteile sind, benötigen etwas länger, um erkannt zu werden.

Ü60

IMG_1986  Apropos Klöntal: Als wir am vergangenen Wochenende an einem Abend im auf «Fischerstübli» getrimmten Saal des Hotels sassen und die gesammelten Videoaufnahmen unserer Ruderausfahrten des Tages vorgeführt erhielten, war jede und jeder etwas angespannt. Unter kritischem Blick der andern, den Kommentar des Trainers in Empfang zu nehmen und diesen dann innerlich zu verarbeiten und am nächsten Tag äusserlich umzusetzen, ist, obwohl wir uns kennen, nicht nur einfach.

Doch Ueli, unser Trainer, ein ehemaliger Silbermedaillengewinner an Olympischen Sommerspielen, ist Gold wert. Er schafft es, uns alle weiter zu bringen. Er schafft es, unsere Fehler durch erklären, zu verkleinern.

Einige werden sich denken, «eliminieren» müsste doch das eigentliche Ziel sein von solch einer dreitägigen Veranstaltung. Ist es aber nicht, da Perfektion im Rudern nie erreicht werden kann. Denn «perfekt» heisst in dieser Sportart: Über eine einzige Sequenz, maximal über mehrere, passt alles optimal zusammen. Mehr nicht. Aber dies ist schon viel und anstebenswert.

So sitze auch im «Fischerstübli» und warte, bis dass die Videoaufzeichnungen der Fahrt im Doppelvierer in unserer Bodenseezusammensetzung und der Fahrt im Doppelzweier mit Doris, meiner Lebenspartnerin, analysiert werden. Wir sehen, dass wir alle Fortschritte gemacht haben. Ich sehe, dass ich eine Abfolge im Ruderschlag verbessern konnte, die letztes Jahr noch kritisiert wurde. Und Ueli meint: «Du bist viel beweglicher.»

Meine Arboner Freundin hat eine Erklärung: das regelmässige Turnen. Ueli hat eine weitere Deutung: ohne berufliche Anspannung.

Es stimmt wohl beides. Doch die Tatsache, dass ich trotz älter werden, beweglicher bin, ist so oder so ein Aufsteller.

Als ich heute meinen Stammtisch in der Badi Enge aufsuche, treffe ich unverhofft auf Olivia, meine Turnlehrerin. «Ich habe dich am Montag vermisst», ist ihre Begrüssung. Ich erzähle von Klöntal und Feedback. Wir strahlen beide und ich stelle fest, dass die beiden Übungsanleitenden – sowohl sie wie auch er – mehrere gemeinsame Qualitäten haben: motivieren, Stärken fördern, Begeisterung für das haben, was sie machen.

Egal, ob pensioniert oder nicht: eine Lebenseinstellung zum Kopieren.

U70 (= unter 70 Jahre)

Apropos München: Als meine Schwester und ich auf unserer Kulturreise zusammen gemeinsam frühstückten und dabei zum Englischen Garten blickten, der mit seinen 375 Hektaren einer der grössten Parkanlangen der Welt ist, war es trotz des vielen Blattgrüns bereits morgens um neun Uhr heiss. Ich erschien deshalb im kurzen Jupe – ein Kleidungsstück, dessen Vorteile ich erst seit etwa zwei Jahren geniesse. Davor ging alles nur in Hosen – da bequemer, da weniger kompromittierend beim Sitzen.

Als wir unser Tagesprogramm besprechen, meint meine Schwester, sie würde gerne ihr weites Kleid anziehen, das sei einfach luftiger. «Doch», gibt sie zu bedenken: «Da passen einfach keine Halbschuhe dazu.»

Weniger konform als meine Schwester meine ich, diese Kombination würde doch «lässig» aussehen. «Und», füge ich hinzu: «Kann dir doch egal sein, wie es ausschaut. Hauptsache: es ist bequem.»

Als wir uns durch die Stadthitze quälen und trotzdem glücklich sind, ist sie froh, um die unkonforme Lösung, die soviel Komfort mit sich bringt – nämlich: kühlenden Wind unter das Kleid und sicheren Tritt bei all den Unebenheiten. Sie sagt: «Das ist eindeutig ein Kompromiss ans Alter – ohne geschlossene Halbschuhe fühle ich mich inzwischen einfach unsicher.»

Dies – nebst vielem anderem – schätze ich an meiner Schwester, die fünf Jahre älter und mir diesbezüglich um einige Schritte voraus ist: Sie jammert nicht über Vergangenes, sondern richtet sich nach dem Jetzt, das nicht mehr ist, wie es einmal war. Oft ist sie mir auch darin um einige Schritte voraus.

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