Wir treffen uns in einem Kaffee mit Bäckereibetrieb. Wir bestellen Süsses und trinken dazu Kaffee. Die Älteste von uns hat seit längerem eine unkontrolliert zitternde Hand. Eine Tasse halten wird immer schwieriger. Sie sagt, indem sie ihr Handicap vorführt: «Das ist einfach ein Mist.»
Wir reden weiter – eigentlich ist es eher ein sich ärgern über Flugpreise, Wetter, das anders als die Prognosen ist und über schrumplige Haut, die unter dem Badeanzug nicht mehr kaschiert werden kann.
Das Gespräch plätschert zwischen Ernsthaftigkeit und Schalk hin und her, bis wir dann doch noch beim eigentlichern Thema unseres Zusammenseins landen. Nämlich über eines meiner Projekte, was bei einem Mitmachen unter anderem bedeuten würde, öffentlich zur eigenen Homosexualität zu stehen. Die Älteste sagt: «Ich weiss, mein Leben ist ein Fake. Aber ich habe keine Lust, mich zu outen. Ich wurde auf Grund von Vermutungen schon genügend verletzt.“
Mir fällt schwer, das ehrliche Statement einfach so stehen zu lassen. Ich erzähle von Röbi und Ernst, über die ich die Biographie «Verborgene Liebe» geschrieben habe. Ernst, im selben Alter wie sie, war Lehrer und lebte während seiner Berufszeit sein homosexuelles, sein wirkliches Leben aus Angst vor Repressionen bloss im Versteckten. Allerdings wurde er, im Gegensatz zu ihr, nach seiner Pensionierung politisch aktiv und engagiert sich seitdem öffentlich für die Gleichstellung homosexueller Menschen.
Sie kreuzt ihre Arme, legt die Hände schützend auf die Schultern und schüttelt dazu verneinend den Kopf. Ich schweige, weil ihre Augen mehr sagen als «mein Leben ist ein Fake».
Ich akzeptiere, dass es in diesem speziellen Lebensbereich, wo in vielen Ländern gleichgeschlechtliche Partnerschaften gesetzlich nicht mehr strafbar sind, dennoch Menschen gibt, die sich nicht trauen, ihr Leben zu leben – trotz hohem Alter.
Nach unserer Verabschiedung bin ich einfach nur dankbar, dass ich ohne verfälschende Maske tragen zu müssen, seit Jahrzehnten durchs Leben wandere ohne grössere Verletzungen (diesbezüglich) und mit meiner wirklichen Biografie alt werden kann.