Rätsel

Dass mir Wasser viel bedeutet, hat eigentlich meine Mutter entdeckt und es sich zu nutze gemacht. Wollte sie ihre Ruhe und nicht pausenlos das Mädchen am Rockzipfel, das durch seine Rastlosigkeit nervte, gab es nur ein Mittel, das ebenso effektiv war wie Beruhigungspillen, die man damals, als ich Kind und gispelig war, noch nicht verabreichte.

Sie stellte mich kurzer Hand auf den Stuhl, den sie vor den Abwaschtrog rückte, drehte den Wasserhahn auf und überliess mich dem Spiel. Sie war von mir befreit und ich im Paradies. Ich «göötschte» während Stunden – füllte Becher, leerte um, schüttete weg. Zwar musste sie mich anschliessend wieder neu einkleiden und den Boden mit einem trockenen Lappen aufnehmen. Doch dieser zusätzliche Aufwand war es ihr offensichtlich wert.

Heute ist es der Duschstrahl unter dem ich verweile – leicht hin und her wippend lasse ich das Wasser vom Haaransatz über die eine Körperhälfte und danach über die andere fliessen, währenddessen ich übers Leben sinniere und Ideen generiere.

Viel DAS WASSER wünschte mir eine Freundin, als auf Pausenbild (1) ein zweites Bild mit Wasser folgte. Dass sich daraus gar eine 5er Serie entwickelte, realisierte ich, als ich mit Pausenbild (6) die Regel durchbrach.

Das Wasser – sich ständig verändernd – hat etwas Magisches. Auch seine unergründliche Tiefe. Sie ängstigte mich nie. Schon früh lernte ich schwimmen und hockte mit derselben Ausdauer im Wasser oder im Gummiboot, wie ich am Abwaschtrog stand. Doch dies ängstigte wiederum meine Mutter. Bloss ein Mal erhielt ich von ihr eine Tracht schmerzhafter Prügel. Das war, nachdem ich im Gummiboot in der Weite des Sees entschwunden war.

Und heute sitze ich im Ruderboot auf dem Wasser – während Stunden, wenn ich all die Kilometer während derer ich fast schwerelos über die Fläche gleite, als Zeit rechne. Die Leidenschaft ist noch immer gross. Dass ich den Zugang zu dieser Dimension des Wassers erst Mitte Vierzig entdeckte, bleibt mir in Anbetracht der soeben erzählten Geschichte, ein Rätsel.

 

Rahmen

Doris, die arbeitsbedingt eine randvolle Agenda hat, meinte vor zwei Tagen, als sie «Bonheur» gelesen hatte, dass das Fahrrad aus dem Keller holen, danach Kaffee trinken und anschliessend im Büro rumnuschen, alles andere als ein Agendatag sei, der wie ein Bild befreiter Rahmen aussehe.

Dem muss ich einfach widersprechen. Denn ich finde schon, dass es ein Unterschied ist, ob ich beim Betrachten der Bildfläche schon das Bild erkennen und ihm allenfalls noch einige Pinselstriche Veränderbares zufallen lassen kann. Oder, ob ich während des Tages noch nicht definierte Farben und Materialien zusammenfüge und ineinander schichte, so dass sich mit einem gewissen Abstand, am Ende des Tages, die Fläche zu einem Bild entwickelt hat.

Selbstverständlich ist mir klar, dass Menschen im Arbeitsprozess wenig Spielraum haben. Dafür sind meine Erfahrungen diesbezüglich noch zu frisch. Aber sicher stehe ich seit der Pensionierung an dem Punkt, wo es für mich keine Alternative gibt, als den Bild befreiten Rahmen neu zu bespielen. Auch wenn sich Farben und Materialen in vielem ähnlich bleiben.

Welten

Da meine Agenda an diesem Tag bloss aus einem Rahmen besteht (siehe gestern «Bonheur»), will ich am späteren Nachmittag für einen Film ins Kino, den ich schon lange auf dem Radar habe. Kurz entschlossen schreibe ich  ein sms an sieben Frauen – alle zwischen Ü65 und Ü70 -, worin ich meine Absicht mitteile und frage, welche mich dabei begleiten möchte – treffen uns kurz vor 16 Uhr an der Kinobar.

Leider nein                Ein anderes mal           Schön, dass du an mich denkst, aber             Habe schon andere pläne                Schade, aber hinterher noch apéro?

«Köpek» heisst der Film, in dem die schweizerisch-türkische Doppelbürgerin Esen Isik das Leben dreier Menschen während eines Tages in der Millionenstadt Istanbul miteinander verwebt. Die Geschichten handeln von einem Kind im Schulalter, das sich als Strassenverkäufer verdingen muss. Von einer Mutter, die von ihrem ehemaligen Verlobten aufgesucht wird und der Ehemann deswegen ausrastet. Und von einer transgender Prostituierten, die von ihrem Geliebten verlassen wird. Alle drei haben eines gemeinsam: Sie sind in der Welt der patriarchal geprägten Gesellschaft massivster, alltäglicher Gewalt ausgesetzt.

Zu zweit sitzen wir im Film und halten diese Gewalt, die für viele Ausübende und Empfangende «Normalität» ist, kaum aus. Es ist geradezu befreiend, der Möve zuzuschauen, die das Kursschiff begleitet, auf dem der Knabe mit seinem Freund den Bosporus überquert, um den andern Stadtteil zu entdecken. Weil in solchen Momenten Verbindendes einfach gut tut, flüstere ich meiner Freundin ins Ohr: «Die Möven sind wohl die einzigen freien Wesen im Land, das möglicherweise schon bald zur EU gehört.»

Als wir den Kinosaal verlassen, gäbe es noch so Vieles darüber zu reden. Doch die beiden, die uns nun zum Apéro erwarten, kommen aus ihrer Welt, die in diesem Moment nichts mit unserer zu tun hat, aber doch sehr viel mehr, als mit derjenigen, mit der wir gerade konfrontiert waren. Als jede ihr Getränk hat, sagen wir zwei Kinogängerinnen beim Anheben des Glases dann doch noch: «Zum Glück sind wir mit einem Leben in dieser Welt beschenkt worden.»

Bonheur

Ich steige mit dem Vorhaben in den Keller, die Räder meines Velos aufzupumpen und mich danach auf den Weg ins Büro / Atelier zu begeben. Doch soweit kommt es vorerst gar nicht. Denn eine meiner Nachbarinnen tauscht Sommerkleider gegen Winterklamotten und da wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, erkundige ich mich nach ihrem Befinden. Seit Wochen, erklärt sie, wanke sie mit permanentem Schwindel, der sie selbst im Schlaf spüre, durch die Welt.

Grausam.

Wir reden, sie erzählt, bis ich frage, ob wir unser Begegnen nicht bei einem Kaffee fortsetzen wollen.

Ja, schon.

Ich denke, das Büro kann warten und schlage deshalb das «Café du Bonheur» vor, da wo ich schon so viele gute Momente verbrachte.

Aber …

Ich versichere, dass ich einen frei gestaltbaren Tag vor mir hätte. Und erwähne noch, ich sei stolz, dass mir dies auch sonst über weite Strecken gelinge.

Beim Kaffeetrinken definieren wir «Sinnstiftendes» als etwas, das nur den eigenen Ansprüchen genügen sollte. Und kommen, als wir mein Einfinden in ein Leben ohne den von aussen vorgegebenen Strukturen thematisieren, zum Schluss, dass ein weitgehend struktur-reduziertes Leben nicht heisst, sich mit Aktivismus zuzudecken.

Wir sind uns einig, dass es bei all den schwindelerregenden Möglichkeiten – um im Jargon zu bleiben – schwierig ist, selektiv zu bleiben, da es bestimmt um einges einfacher wäre, weisse Seiten einzuschwärzen. Aus dem Nichts entwickeln wir die Idee einer Agenda bestehend aus Terminblättern, die bloss umrandet sind – also mit herausgeschnittenen Flächen.

An diesem Gedanke gefällt uns die Vorstellung, dass der Rahmen um Leere, Räume schafft für eine eigene, sinnige (eigensinnige) Farbigkeit.