Gender

Schon wieder.

Dieses Mal gehen wir auf dem Bürgersteig aufeinander zu; nicht auf dem Asphalt, sodern auf dem Rand aus Granit. Ich spiele ein Spiel mit mir – tanzen ohne mit den Füssen eine Fuge berühren. In meiner Kindheit trieb ich es solange, bis ich aus dem Gleichgewicht fiel.

Auch er, der auf mich zukommt, sieht darin ein Spiel – seines: Wer hält den direkten Weg.  Er, der Mann, oder sie, die Frau.

Das Anerzogene gewinnt.

Ich habe es verpasst, mich innerlich auf den Knall vorzubereiten – denn nur so ist das Muster zu durchbrechen, dass ich, die Frau, mich nicht aus der Bahn werfen lasse.

Den letzten, nicht verpassten Aufprall, erlebte ich vor einer Woche auf dem Gemüsemarkt. Richtig provokativ kam er mir telefonierend entgegen und stand plötzlich still. Verankerte sich im Boden, winkelte kurz vor dem Zusammenprall den Arm an, mit dem er das Smartphone am Ohr hielt.

Und dann knallte es. Wirklich.

Sein Blick triumphiert, als er sagt, kannst du nicht …

Nein, weshalb nicht du!

Er stehe hier doch still, ob ich das nicht sehe!

Ich weiss, sage ich, Männer haben immer Recht, gehe weiter und höre, wie er ins Handy wettert: Eine – mit einem richtigen Gender Problem!

Als ich heute auf dem Randstein tanze und es nicht zum Knallen kommen lasse, weil ich ausweiche, um danach meinen Weg über den abgrenzenden Granit fortzusetzen, weiss ich, der Mann hat wirklich Recht.

Berlin 3

Was, schon wieder weg?

Mit dieser Frage, die eigentlich keine Frage, sondern viel eher eine Feststellung ist, werde ich häufig konfrontiert. Interessant an dieser Frage finde ich deren Aussagekraft. Denn je nach mitschwingender Tonlage höre ich, wie die Frage stellende Person über mein Reisen denkt.

Doch dies ist eine andere Geschichte.

Von Ravenna will ich hier ebenfalls nicht berichten – schliesslich habe ich davon in «Amarcord» erzählt.

Von Berlin habe ich bereits zwei Detail-Ansichten publiziert. Beide Bilder konzentrierten ihren Fokus aufs Zusammenspiel von Licht und Schatten. Selbstverständlich finden sich solch enge Ausschnitte auch anderswo. Vor allem zu Hause, weil ich hier ja den grössten Teil meiner Lebenszeit verbringe und das nachfolgende Bild ist Beweis genug. Es zeigt die Sonnenschatten an meiner Schlafzimmerwand.

Zugegeben, um solch Schönes zu sehen / zu finden, muss frau nicht erst nach «Was, schon wieder weg» fahren.

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Doch «Was, schon wieder weg» ermöglicht es, Gedanken zu vertiefen, die bis dahin nie in derselben Klarheit aufschienen. Selbstverständlich las ich über us-amerikanische Polizisten, die vor allem nicht weisse Menschen kontrollieren und von Behörden, die vor allem nicht weisse Menschen in den Knast bringen.

«Hier-auch»! Zugegeben, so deutlich wie in Berlin war dieser Gedanke in Zürich nicht.

In Neukölln besuchten wir das dokumentarische Stück «NSU-Monologe», aufgeführt von der «Bühne für Menschenrechte», in dem Schauspieler*innen die Geschichte von drei türkischen Familien erzählen, deren Angehörige vom «Nationalsozialistischen Untergrund» ermordet wurden. Die zurück Gebliebenen wurden von Polizei, Untersuchungsbehörden und Umgebung während Jahren wie Täter behandelt. Erst 2011 – 10 bis sechs Jahre nach den tötlichen Anschlägen – flog dann die rassistisch aktive Zwickauer Zelle auf. Ein Teil der Mörderbande entzogen sich durch Selbstmord der Verantwortung. Nur Beate Zschäpe steht heute vor Gericht – und schweigt.

Die Diskussion im Anschluss zeigte, dass rassistisches Handeln auch in Institutionen  implementiert und verbreitet ist. Der Vertreter von «Initiative Schwarze Menschen in Deutschland» sprach von «institutionalisiertem Rassismus». Denn nur in einem rassistisch implementiertem Umfeld ist es möglich, dass während Jahren ausschliesslich im Umfeld der betroffenen Ausländer nach den Tätern gefahndet wird, selbst dann, wenn die Angehörigen der Opfer immer wieder sagten, sucht bei den Nazis, sucht unter den Rassisten. Und trotzdem richteten die Behörden, die für sich Unabhängigkeit und Neutralität reklamieren, während Jahren ihren Fokus nie aufs Eigene, immer nur aufs Fremde.

Mit welcher Konsequenz? Auf der Anklagebank sitzt heute eine schweigende Beate Zschäpe, die, so scheint es, mit den Beamten fraternisiert. Die Vertreter der Institutionen allerdings, die durch ihren rassistischen Fokus über Jahre Aufklärung verhinderten, sind bis heute von Konsequenzen ausgespart.

So viel Erhellendes nach «Was, schon wieder weg» und bereits wieder da.

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Gedankengut

Klar lebe ich auf einer Insel, in einem Land, für das es keinen goldenen Stern auf blauem Grund gibt. Und dennoch ist in diesem – «meinem» – Land ähnliches auszumachen, wie in denjenigen, die gemeinsam als Sterne auf der der Europaflagge den Kreis bilden – Hoffnung und Zukunft symbolisierend.

Doch aus dem Gemeinsamen wird je länger je mehr wieder Separierendes und Ausgrenzendes. Nationales oder Europäisches? Welche Zukunftsvision wird am kommenden Sonntag mehr Stimmen erhalten? Diejenige von Macron oder diejenige von Le Pen?

In diesem Umfeld liest sich «Marine Le Pen – Tochter des Teufels» von Tanja Kuchenbecker, die seit 1991 in Frankreich als Journalistin für deutschprachige Magazine und Zeitungen arbeitet, schon fast wie ein Krimi.

Sie analysiert wie es der «Front National» (FN) –  das Familienunternehmen Le Pen – schafft(e), von der marginalen rechtsaussen Bewegung zur breit verankerten und (fast) mehrheitsfähigen Partei zu werden. Wie es Marine Le Pen macht(e), der Partei des offen rassistisch denkenden Initianten Jean-Marie Le Pen zu einem neuen Gesicht zu verhelfen, hinter dessen Stirn sich aber noch immer alte Überzeugung verbirgt. Unter anderem mit anderer Wortwahl. So wird beispielsweise anstelle des aus dem FN-Vokabular verbannten Begriffs «Rasse» konsequent von «kulturellen Unterschieden» gesprochen, auch wenn damit dasselbe gemeint ist. Statt von «Muslimen, die …» heisst es «Minderheiten, die uns ihre Werte aufzwingen wollen» oder für «Einwanderer» wird das abraktere «Immigration» verwendet. Usw.

Der Journalistin Tanja Kuchenbecker gelingt es, in mehreren Kapiteln – auch zu wirtschaftlichen Themen – aufzuzeigen, wie in Frankreich unter der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen rechtsradikales Gedankengut von der geächteten Einzelmeinung zu einer tolerierten bürgerlichen Ansicht geworden ist.

Doch zu hoffen ist, dass am Sonntag in Frankreich dieses Gedankengut, das auch in der Schweiz erodierend auf demokratische Werte wirkt, nicht auch noch mehrheitsfähig wird.

Amarcord

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Niemand anderer als meine Schwester wird beim Betrachten dieses Bildes auf ein anderes blenden, auf ein schwarz-weisses: Ich an der Hand meines Vaters; wir beide neben einander in der Morgensonne am leeren Strand.

Amarcord, nicht Fellinis Rimini, sondern unser Riccione.

Das Bild auf das nur meine Schwester mit ihrem inneren Auge überblenden kann, entstand vor 60 Jahren.

Amarcord, Riccione.

Doris war es, die mich animiert während unserer Ferienwoche in Ravenna mit dem Zug dahin zu fahren, wo ich als fünf Jährige aus Sand Strecken konstruierte, um mit dem vom Daumen schnappenden Mittelfinger die ultra leichten, farbigen Kugeln mit den Porträts von italienischen Fahrradgrössen wie Fausto Coppi und Gino Barteli auf den bergigen Parcours zu spicken.

Selbstverständlich ist heute nichts mehr wie früher.

Währenddessen wir im Ristorante Pizza essen, sucht die Frau in meinem Rücken auf ihrem Smartphone, ob es meinen Ort der Erinnerung überhaupt noch gibt. Tatsächlich: «Hotel d’Este»!

Wenig später stehen wir davor.

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Es war anders, damals. Und doch war es nicht anders. Nachdem das kleine Gebäude abgerissen, in den 70er Jahren ein richtiges Hotel hingeklotzt wurde, indem wir nochmals Ferien verbrachten, steht noch immer. Auch die Dependence gibt es noch. Da, sage ich zu Doris, stand meine Schwester auf dem Balkon.

Als ich erzähle, parkiert ein Auto. Ja, sagt er, als ich ihn frage, ob er hier wohne. Und ein weiteres Kopfnicken – ja, er sei der Padrone. Als er uns zum Kaffee einlädt und uns vom Dachstock aus die Umgebung zeigt, ergibt eine Erinnerung eine weitere.

Ja, richtig – früher hatte es dort, entlang des Strandes, wo nun Häuser stehen, eine Sanddüne. Die Häuser links und rechts gab es ebenfalls nicht. Ja, Gabriella – die Frau, die uns jeweils am Morgen, Mittag und Abend die Butterröllchen im Silber servierte, sei seine Schwester.

Nach diesen Erinnerungen lasse ich mich von Doris fotografieren. Ich stehe hin wie damals, auch die O-Beine – ein Amarcord, speziell für meine Schwester.