Berlin 3

Was, schon wieder weg?

Mit dieser Frage, die eigentlich keine Frage, sondern viel eher eine Feststellung ist, werde ich häufig konfrontiert. Interessant an dieser Frage finde ich deren Aussagekraft. Denn je nach mitschwingender Tonlage höre ich, wie die Frage stellende Person über mein Reisen denkt.

Doch dies ist eine andere Geschichte.

Von Ravenna will ich hier ebenfalls nicht berichten – schliesslich habe ich davon in «Amarcord» erzählt.

Von Berlin habe ich bereits zwei Detail-Ansichten publiziert. Beide Bilder konzentrierten ihren Fokus aufs Zusammenspiel von Licht und Schatten. Selbstverständlich finden sich solch enge Ausschnitte auch anderswo. Vor allem zu Hause, weil ich hier ja den grössten Teil meiner Lebenszeit verbringe und das nachfolgende Bild ist Beweis genug. Es zeigt die Sonnenschatten an meiner Schlafzimmerwand.

Zugegeben, um solch Schönes zu sehen / zu finden, muss frau nicht erst nach «Was, schon wieder weg» fahren.

thumb_IMG_5735_1024

Doch «Was, schon wieder weg» ermöglicht es, Gedanken zu vertiefen, die bis dahin nie in derselben Klarheit aufschienen. Selbstverständlich las ich über us-amerikanische Polizisten, die vor allem nicht weisse Menschen kontrollieren und von Behörden, die vor allem nicht weisse Menschen in den Knast bringen.

«Hier-auch»! Zugegeben, so deutlich wie in Berlin war dieser Gedanke in Zürich nicht.

In Neukölln besuchten wir das dokumentarische Stück «NSU-Monologe», aufgeführt von der «Bühne für Menschenrechte», in dem Schauspieler*innen die Geschichte von drei türkischen Familien erzählen, deren Angehörige vom «Nationalsozialistischen Untergrund» ermordet wurden. Die zurück Gebliebenen wurden von Polizei, Untersuchungsbehörden und Umgebung während Jahren wie Täter behandelt. Erst 2011 – 10 bis sechs Jahre nach den tötlichen Anschlägen – flog dann die rassistisch aktive Zwickauer Zelle auf. Ein Teil der Mörderbande entzogen sich durch Selbstmord der Verantwortung. Nur Beate Zschäpe steht heute vor Gericht – und schweigt.

Die Diskussion im Anschluss zeigte, dass rassistisches Handeln auch in Institutionen  implementiert und verbreitet ist. Der Vertreter von «Initiative Schwarze Menschen in Deutschland» sprach von «institutionalisiertem Rassismus». Denn nur in einem rassistisch implementiertem Umfeld ist es möglich, dass während Jahren ausschliesslich im Umfeld der betroffenen Ausländer nach den Tätern gefahndet wird, selbst dann, wenn die Angehörigen der Opfer immer wieder sagten, sucht bei den Nazis, sucht unter den Rassisten. Und trotzdem richteten die Behörden, die für sich Unabhängigkeit und Neutralität reklamieren, während Jahren ihren Fokus nie aufs Eigene, immer nur aufs Fremde.

Mit welcher Konsequenz? Auf der Anklagebank sitzt heute eine schweigende Beate Zschäpe, die, so scheint es, mit den Beamten fraternisiert. Die Vertreter der Institutionen allerdings, die durch ihren rassistischen Fokus über Jahre Aufklärung verhinderten, sind bis heute von Konsequenzen ausgespart.

So viel Erhellendes nach «Was, schon wieder weg» und bereits wieder da.

thumb_IMG_5726_1024

 

 

abtauchen

Dass ich überhaupt zum gestern beschriebenen Sing-Sang, zum nur für mich hörbaren Ohrwurm, des ennet der Kantonsgrenze gesprochenen Dialektsounds kam, hat (selbstverständlich) eine Vorgeschichte und die beginnt mit einem Typen, der mich wegen einer einzigen Bemerkung nachhaltig nervte.

Vor gefühlter Urzeit, als ich ihn fragte, was er von Herta Müllers neustem Buch halte, gab er mir leicht abschätzig zur Antwort: «Es ist einmal mehr ihre alte Geschichte.» Ich weiss nicht mehr, um welchen Titel es sich handelte, ich weiss nur noch, dass ich damals, als sie noch nicht Nobelpreisträgerin war, nicht an ihren biografischen Schreckensromanen vorbeigehen konnte, ohne sie zu kaufen und zu lesen. Deshalb beleidigte mich diese Antwort, die ich so perrsönlich nahm, dass ich daraufhin beschloss, bei diesem Ignoranten nie mehr ein Buch zu kaufen.

Daran hielt ich mich bis Mitte letzter Woche. Da verführte mich ein schön gestalteter Buchdeckel, die Schwelle erneut zu übertreten. – Ein Reich an kunstvoll gestalteter Bücher eröffnet sich – ein Labyrinth an Kostbarkeiten. Das pure Gegenteil der zu Berge wachsenden Massen bei den Markt Beherrschenden.

Sonne streift über Bücher. Verzaubert träume ich von einem Liegestuhl, wie Sätze aus Büchern durch den Trichter in den Mund fliessen, auf der Zunge schmelzen und durch meinen Körper fliessen …

Ich sehe das im Schaufenster ausgestellte, das mich in den Laden sog, klemme es unter den Arm, frage dann aber auch noch nach marokkanischer Literatur, die ebenfalls verführt. Schliesslich lege ich alles auf eine Beige, gewillt zu kaufen und dann, im letzten Moment, ganz oben drauf, auch noch «Di schöni Fanny», die das Leben dreier Freunde – allesamt Künstler – durcheinander bringt. Zu Hause verfalle auch ich ihr – genauer: der Erzählung und vor allem der Virtuosität der Sprachmelodie, die im Dialekt des Autors, von  Pedro Lenz, geschrieben ist.

Die beiden mahgrebinischen Bücher lege ich zur Beige, die in den Koffer gepackt werden soll, weil ich in Marokko, wo ich mit Schwester und Schwager Ferien verbringen werde, lesen will, was dort Thema ist. Doch erst einmal glücklich, dass ich den Buchladen-Bann lösen konnte, tauche ich in Fannys Geschichte, bevor ich Richtung nördliches Afrika abhebe und erneut abtauche!

unhaufhaltbar

Ich weiss, dass heute der Tag ist, an dem eine meiner Freundinnen ihre liebste Freundin zum Flughafen begleitet, die zurück in ihre Heimat fliegt. Und ich weiss ebenfalls, dass mit jedem Mal, wo sich die beiden voneinander verabschieden, die Wahrscheinlichkeit, dass es altershalber das letzte Mal war, grösser wird. Darum schreibe ich der Zurückgebliebenen eine kurze Botschaft.

Tatsächlich ist sie in eben diesem Moment, wo meine Mitteilung bei ihr eintrifft, auf der Heimfahrt in die Leere und ins Wegräumen der hinterlassenen Spuren und noch so froh über mein Zeichen aus dem Seebad Enge.

Trotz kühlem Wind sitze ich dort, wo es mich jeweils einen Sommer lang häufig hinzieht. Einmal mehr ist das «Vrenelisgärtli» unsichtbar, dafür zeigt sich heute das «Stöcklichrüz», eine vorgelagerte Hügelkette, nicht allzu hoch, die ich jeweils im Herbst und Winter gerne erwandere, weil einem dort der Zürichsee in seiner ganzen Biegung, einer Banane nicht unähnlich, so schön zu Füssen liegt.

Die Wagemutigen sind heute, am Mittag, an zwei Händen abzuzählen. Denn die Wärme ist trügerisch und ohne Deckung spürbar, dass die Bise den Sommer im Würgegriff hat, um ihn zu vertreiben. Und auch deshalb beendete ich meine Kurzbotschaft an die Freundin mit: «Gruss aus der Badi am Tag der Abschiede».

Wenig später steht sie vor mir, erleichtert, dass sich die Konfrontation mit dem Erinnern an die schöne Zeit, verzögert. Wir reden, was war. Und es wird nochmals so richtig heiss. Der Sommer stemmt sich noch immer gegen den Herbst, als der Flieger mit einer halben Stunde Verspätung in Zürich Kloten abhebt. Unaufhaltbar.

Aussenblick

Ich fahre zur Morgenstunde der Arbeitenden mit dem Zug von der Stadt in eine Vorortsgemeinde. Ich sitze inmitten von Menschen; sie hängen an der Pipeline der Ohrstöpsel oder der Nachrichten auf Bildschirm oder Zeitung.

Ich sitze inmitten von ihnen und niemand sieht mich. Was für eine Zeiterscheinung, welch interessantes Phänomen. Menschen versenken sich in ihre Welt – ich schätze: 90 Prozent oder mehr.

Deshalb bin ich froh, dass sich eine Frau mir gegenüber hinsetzt. Ich will grüssen. Doch treffe meine Augen die ihren nicht. Sie schaut aus dem Fenster und schläft bald schon ein.

Am nächsten Tag fahre ich noch einmal zur gleichen Zeit von der Stadt in die Agglomeration. Die Situation könnte, wäre sie ein Bild, die Kopie vom Vortag sein: Niemand sieht mich. Wiederum sitzt mir eine Frau gegenüber.

Nur: Ich bin heute nicht dieselbe wie gestern.

Ich frage die Frau, obwohl sie in der Zeitung liest, was für ein Kraut aus ihrem Rucksack lugt. Sie schiebt die Brille hoch, legt das Gratisblatt zur Seite, reibt mit den Fingern über die Pflanzenblätter, vor denen, wie sie sagt, sich Schnecken hüten, daran zu naschen. Gelb seien die Blüten, die nächstes Jahr dann im Garten ihres Sohnes leuchten würden.

Aus unseren beiden Sätzen entwickelt sich ein Gespräch. So erfahre ich unter anderem, dass sie ihre Termine maximal bis zu zwei Monaten zum Voraus abmacht: «Wer weiss, ob es mich dann überhaupt noch gibt?!» Ich sage, dass ich es seit der Pensionierung ähnlich handhabe.

Damit ist das nächste Thema lanciert. Bei ihr war es vor 12 Jahren. «Damals», erzählt sie, «bin ich nach Hause gekommen, habe mich ins Bett gelegt und zwei Stunden lang durchgeheult.» Damit hätte sie den Schmerz überwunden und sei daraufhin im neuen Leben angekommen – seitdem «kein Moment der Langeweile». Dieses Gefühl kenne sie nicht.

Mit einem «ich schon» fährt der Zug in den Bahnhof meines Ziels.

Beim Aussteigen wird mir bewusst, Dresden, wo im öffentlichen Bereich weniger telefoniert und auffällig mehr geredet wird, hat mich sensibilisiert: Ich sitze im Zug … und schaffe den wahrnehmenden Aussenblick, den ich mir, als fester Teil von … noch lange bewahren möchte.

Zurück-bleibendes

Ja, zurück ist zurück. Und das bin ich wieder. Zurück aus Prag, zurück von der Wanderruderfahrt von Prag nach Dresden, zurück vom Gleiten über Moldau und Elbe, zurück aus Dresden und auch zurück vom Erkunden.

Zurück bleibt was?

Vieles.

Zum Beispiel: Wie offensichtlich sichtbar westlicher Wohlstand (ehemalige DDR) im Gegensatz zu einem weniger westlichen, aber noch immer westlichem Land (Tschechische Republik) ist. Einige 100 Meter unterhalb der Grenze erstrahlt die Welt in einer anderem Glanz als einige Meter oberhalb dieser Trennlinie. Eindrücklich. Und auch erschreckend.

Oder: Dresden ist eine vielfältige Stadt mit Vergangenheit. Die verherende Kriegsnacht  vom 13. auf den 14. Februar 1945, als die kulturhistorische Stadt durch britische und US-amerikanische Bomben grossflächig in Schutt und Asche gelegt wurde, weil Piloten ausführten, was Strategen befahlen, ist trotz Wiederaufbau präsent. Sicht- und erfahrbar für jene, die sich dafür interessieren oder einfach (nur) schön und mächtig, wer bloss Fassaden wahrnehmen will.

Oder: Die Dresdner Bevölkerung, so macht es den Anschein, ist weniger gestresst. Die omnipräsente «handy-rei» gibt es (noch) nicht. Dafür gibt es auffällig viele Menschen, die sich aufs Gegenüber einlassen – auch auf Fremde – oder mit Kindern entspannt spielen, ohne dass das Begegnen durch Klingeltöne abrupt unterbrochen oder gar zum permanenten Hinderniss wird.

Und: Wer offen ist, Geschichten zu hören, erfährt so vieles – in den Kaffees, in den Ausstellungsräumen von Gemäldegalerien oder so wie wir von den beiden Frauen des Rudervereins Dresden, die uns spontan zum Rudern auf der Elbe mitgenommen haben. Die eine ist 61-jährig, die andere, diejenige mit 150 Siegen, 76-jährig. Beide sind in ihren Alterskategorien noch aktive Wettkampf-Ruderinnen. Sie erzählen von damals. Sie reden von heute. Den Zugang ermöglichte uns eine andere Ruderin. Auch sie erlebt(e) die gegensätzlichen Welten von Sozialismus und Kapitalismus. Unsere Neugier, unser Zuhören und unser Fragen machen uns alle gesprächig und schaffen den Boden für nachhaltige Bekanntschaften.

Zurückblickend einmal mehr die Erkenntnis: Eine Pause ist nicht nichts und deshalb tut auch eine Schreibpause so richtig gut, da es beim blossen Hinhören, beim Hinsehen und sich Zeit lassen so viel Spannendes und Bereicherndes zu entdecken gibt.

Kurzum: Zurückbleibendes.

einmalig

Wir sitzen im Gold der Abendsonne über Prag, schauen auf die Stadt der tausend Türme, staunen über das viele Leben auf der Karlsbrücke, trinken ein Bier aus der Klosterbrauerei und beobachten dazu vergnügt die drei jungen Asiatinnen am Nebentisch. Für das Selbstporträt hebt jede abwechslungsweise das am ausgezogenen Selfiestick eingeklemmte Handy. Jede nimmt dazu die typische Pose ein – das Haar zurecht gemacht, das Lachen eingefroren, die Zahnkorrektur versteckt.

Alle drei verharren in der Foto gerechten Position – die Rücken bleiben der phantastischen Kulisse zugewandt, deshalb stellen wir spöttelnd fest, dass die drei jungen Frauen spätestens zu Hause sehen werden, wo sie waren.

Menschen aus aller Welt sind, wo auch wir sind. Menschen aus christlich geprägten Ländern, aus Ländern, in denen die Scharia das Leben bestimmt, Menschen jüdischen Glaubens. Sie alle – Frauen, Männer und Kinder – leben, weil sie ihre Reise in diesem Moment auf die Aussichtsterasse über Prag gebracht hat, friedlich und rücksichtsvoll nebeneinander. Wir alle hören dazu die Klänge eines Trios von Männern, die in vielen Teilen dieser Welt ausgegrenzt werden, weil sie Sinti oder Roma sind. Sie spielen an diesem Abend, wo die Abendsonne die Stadt, die einmal eine so wichtige Rolle in Europa inne hatte, klassische Ohrwürmer, die anrühren. Der einen, der drei jungen Asiatinnen läuft dabei das Herz über. Sie schluchzt, rotzt, lacht und «selfiet» – einfach ein lokaler, einmaliger Moment.

reisen

thumb_IMG_2957_1024

«Eine Pause ist nicht nichts» – schon einmal habe ich diesen Satz zitiert.

Nun wieder.

Mit Doris bin ich unterwegs nach Prag. Wenige Tage. Danach geht’s im Ruderboot weiter – auf dem fliessenden Gewässer von Prag nach Dresden, zusammen mit einer Gruppe.

Wir freuen uns – auch auf diesen Weg.

Vielleicht gibt’s von unterwegs Bilder und/oder Text – wer weiss. Jedenfalls wünsche ich allen eine gute Zeit. Barbara

Oski

Dieses Mal treibt mich der Hunger in die Quartierbäckerei und nicht der «Gluscht» (siehe meine Bloggeschichte «Schnecke»). Denn als ich zu Beginn des Morgens in meinem Atelier begann, Gedanken und Bilder zu sortieren, vergass ich, dass es Mittag ist und um vier Uhr nachmittags macht es keinen Sinnm mehr, das Verpasste nachzuholen, da mir abgesehen davon nun auch die Zeit fürs Hinsetzen fehlt.

Also nehme ich mit der Dynamik der vom Hunger Getriebenen die drei Stufen.

Drinnen begrüsst mich «Oski» mit seinem für ihn typischen «sali, wie häsch es». Zum Reden bleibt keine Zeit. Denn als es nur schon den Anschein macht, dass er, der pensionierte Bäcker und aushelfende «Ladenhüter», zu dem ansetzen könnte, was er so gerne macht, nämlich plaudern, atmet die Frau, die nach mir eingetreten ist tief und sagt: «Draussen liegt mein Kind im Wagen». Wir wissen, was sie damit meint.

Eine Stunde später stehe ich nochmals vor Oski, weil mein Hunger noch immer nicht gestillt ist.

«Sag mal, wie geht es auch deiner Partnerin?», fragt er aus dem Nichts und meint, er habe sie schon lange nicht mehr gesehen.

Wenn er das frische Brot von der Backstube im Keller in den Verkaufsladen hoch trug sah er jeweils kurz nach fünf Uhr Doris an der gegenüberliegenden Station aufs Tram warten, um zurück an den Bodensee zur Arbeit zu fahren. Dann winkten jeweils beide und lächelten.

Er fragt: «Habt ihr es nicht mehr gut?», schaut mir prüfend in Augen und Seele und bewegt dabei wiederholt die beiden ausgestreckten Zeigefinger aufeinander zu und wieder von einander weg.

Ich erkläre ihm, dass ihr dieses frühe Aufstehen mehr Energie fresse als früher und sie deshalb lieber am Abend noch zurück reise, als am eigentlichen Arbeitstag. Der Stress sei ihr mit zunehmendem Alter zu gross geworden. Nun würde ich, die Pensionierte, regelmässig und häufiger zu ihr reisen, als sie zu mir.

Er versteht, will wissen, was sie arbeitet, ist mit meiner Antwort zufrieden und sichtlich erleichtert. Zur Verabschiedung sagt er noch: «Lass sie von mir grüssen.»

Es ist nicht die gekaufte Süssigkeit die mein Herz erwärmt. Es ist diese Aufmerksamkeit, dieses Anteil nehmen, das mich berührt und begleitet, als ich ins Wochenende von dort nach dort zu Doris reise.

 

 

 

selbstverständlich

Unlängst war ich an einem runden Geburtstag. Eine Freundin feierte ihren 75sten. Wir waren eine kleine, feine Gruppe.

Da es einer dieser nicht mehr aussergewöhnlich anmutenden Regentage im Sommer war, sassen wir im Schutze eines Zeltes. Dessen Wirkung ist kuschelig – es tropft aufs Dach, wir sitzen nahe beieinander und wir geniessen das feine Essen, das ein Paar für die Jubilarin und ihre Gäste liebevoll vorbereitet hat.

Wir reden über vieles, schliesslich kennen sich die meisten seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten. Die Gespräche unter der Zeltdecke sind entsprechend lebendig. Nur zwischendurch werden wir uns bewusst, wie alt wir alle sind – nämlich alt. Dann nicken wir jeweils mit dem Kopf, am Tisch sagt’s rundum «jaja» oder «das kenne ich auch» oder «was, du auch», danach geht’s in quirligen Tonfällen weiter.

Wir sind alt zusammen geworden. Sind wir uns dessen bewusst? Oder haben wir es vergessen, weil wir uns so vertraut sind und uns inzwischen nicht anders, als mit Falten kennen?

Jedenfalls sind wir alle älter als früher und viele gehen inzwischen auch etwas früher als früher.

Als ich dann alleine bin, unterwegs von dort nach dort, wird mir plötzlich bewusst, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Zum Beispiel, dass die eine oder andere, wenn die Jubilarin möglicherweise in fünf Jahren den nächsten runden Geburtstag feiert, nicht mehr dabei sein wird. Dieser Gedanke macht mich nachdenklich und ich frage mich, ob es gut oder schlecht war, dass ich mir dessen während des Zusammenseins nicht bewusst war.

Ich weiss es nicht.

Ich weiss nur, dass es das erste Mal war, mir in diesem Zusammenhang diesen Gedanken zu machen, der für unsere Generation selbstverständlich sein sollte, da er der Realität entspricht.

gehen (10)

thumb_IMG_2878_1024

Dieses Hinweisschild in welche Richtung ich im Notfall zu fliehen habe, befindet sich in der historischen Villa Planta, im alten Teil des Bündner Kunstmuseums.

Damit endet die «gehen»-Serie nach 10 Ausgaben.

Dass ich ausgerechnet für mein Reisen in die Provinz – böse formuliert – mit soviel Inspirierendem beschenkt werden könnte, ahnte ich bei meinem spontanen Planen nach Chur zu fahren nicht, um dort sowohl das neue Museum als auch die beiden Ausstellungen «SOLO WALKS» und Zilla Leuteneggers «TINTERELLA DI LUNA » zu besuchen. Doch wie bereits in «gehen (3)» beschrieben, entwickelte sich an diesem Ort diese Idee. Dass sich mit einem einzigen Ausflug gleich 10 Geschichten schöpfen liessen, eröffnete sich erst vor Ort.

Um ehrlich zu sein, mich im «Gehen» fliessen zu lassen, hat mir echt Spass gemacht. Dennoch wähle ich nun diesbezüglich, dem Foto entsprechend, den Abgang – allerdings, nicht ohne noch zwei Dinge zu erwähnen.

Erstens (oder zweitens): Ausfliegen beflügelt Seele und auch Geist; wirkt anregend. Da mit meiner Pensionierung, dem Ausstieg aus dem Berufsalltag eine Quelle des Austausches und geistigen Auftankens versiegt ist, werden für mich Ausflüge und Eintauchen in (auch) Unbekanntes wichtig, so meine Erkenntnis.

Zweitens (oder erstens): Bei den Blogleserinnen und – leser möchte ich mich bedanken, fürs Mit-«gehen» und fürs sich damit Auseinandersetzten. Ohne euch wäre thumb_thumb_Bildschirmfoto 2016-06-28 um 17.11.20_1024_1024 einfach nicht gegangen. Danke!