Aussenblick

Ich fahre zur Morgenstunde der Arbeitenden mit dem Zug von der Stadt in eine Vorortsgemeinde. Ich sitze inmitten von Menschen; sie hängen an der Pipeline der Ohrstöpsel oder der Nachrichten auf Bildschirm oder Zeitung.

Ich sitze inmitten von ihnen und niemand sieht mich. Was für eine Zeiterscheinung, welch interessantes Phänomen. Menschen versenken sich in ihre Welt – ich schätze: 90 Prozent oder mehr.

Deshalb bin ich froh, dass sich eine Frau mir gegenüber hinsetzt. Ich will grüssen. Doch treffe meine Augen die ihren nicht. Sie schaut aus dem Fenster und schläft bald schon ein.

Am nächsten Tag fahre ich noch einmal zur gleichen Zeit von der Stadt in die Agglomeration. Die Situation könnte, wäre sie ein Bild, die Kopie vom Vortag sein: Niemand sieht mich. Wiederum sitzt mir eine Frau gegenüber.

Nur: Ich bin heute nicht dieselbe wie gestern.

Ich frage die Frau, obwohl sie in der Zeitung liest, was für ein Kraut aus ihrem Rucksack lugt. Sie schiebt die Brille hoch, legt das Gratisblatt zur Seite, reibt mit den Fingern über die Pflanzenblätter, vor denen, wie sie sagt, sich Schnecken hüten, daran zu naschen. Gelb seien die Blüten, die nächstes Jahr dann im Garten ihres Sohnes leuchten würden.

Aus unseren beiden Sätzen entwickelt sich ein Gespräch. So erfahre ich unter anderem, dass sie ihre Termine maximal bis zu zwei Monaten zum Voraus abmacht: «Wer weiss, ob es mich dann überhaupt noch gibt?!» Ich sage, dass ich es seit der Pensionierung ähnlich handhabe.

Damit ist das nächste Thema lanciert. Bei ihr war es vor 12 Jahren. «Damals», erzählt sie, «bin ich nach Hause gekommen, habe mich ins Bett gelegt und zwei Stunden lang durchgeheult.» Damit hätte sie den Schmerz überwunden und sei daraufhin im neuen Leben angekommen – seitdem «kein Moment der Langeweile». Dieses Gefühl kenne sie nicht.

Mit einem «ich schon» fährt der Zug in den Bahnhof meines Ziels.

Beim Aussteigen wird mir bewusst, Dresden, wo im öffentlichen Bereich weniger telefoniert und auffällig mehr geredet wird, hat mich sensibilisiert: Ich sitze im Zug … und schaffe den wahrnehmenden Aussenblick, den ich mir, als fester Teil von … noch lange bewahren möchte.

8 Gedanken zu “Aussenblick

  1. Liebe Barbara, es ist klar, dass ich in den Berliner Verkehrsmitteln genau das gleiche beobachte – es ist schon eine wahre Freude, wenn mal jemand ein „echtes“ Buch liest, eine raschelnde Zeitung vor den Augen hat – es sei, es ist die B*ILD oder ihre Töchter, die finde ich nicht gut.
    Lange genug habe ich ja in Dresden gelebt – damals war es die Hauptstadt des „Tals der Ahnungslosen“ – das bezog sich nicht auf die Menschen, sondern auf den fehlenden Westfernsehempfang, der nicht möglich war. Vielleicht ist es heute mit WLAN ähnlich und deswegen ist die Stadt handyfreier 🙂 😉
    Mit Gruß von Clara

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  2. Ich könnte mir vorstellen, dass besonders in Zügen, wo man sich oft viel zu nah ist (näher als angenehm) es mit den neuen Möglichkeiten leichter geht sich aus der Situation wenigstens teilweise herauszunehmen. Wie deine Geschichte zeigt, verliert man dabei möglicherweise qualitativ Lebenszeit (wie so oft), weil man die Gegenwart als zu überwindendes Etwas oder notwendiges Übel eigentlich schon verlassen haben möchte. Mich berührt diese Geschichte, weil sie so anschaulich zeigt, dass in jedem Moment des Lebens schöne, interessante, weiterbirngende Chancen stecken. Direkt und unmittelbar. Und man erkennt und sieht sie nicht, weil man schon in die Zukunft hastet oder irgendwo in vergangenen Situationen gedanklich udn emotional festhängt.
    Je älter ich werde, umso eher bin ich geneigt mich auf die Fülle der Möglichkeiten einzulassen…

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  3. 2 Stunden heulen … und dann im neuen Leben angekommen sein. Großartig, wie unterschiedlich Menschen sind und ihre eigenen Strategien entwickelt haben.
    Ich heule zwar auch ab und an … brauch aber wesentlich länger für mein „neues Leben“.
    *zwinker*

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