wirken

Die Frauengruppe «Women on Waves» berät und unterstützt Frauen in Ecuador, Chile, Peru, in Polen, der Türkei, in Pakistan, Tansania, in Marokko, auf den Philippinen, in Irland … überall dort, wo Frauen (noch) kein Recht auf Selbstbestimmung haben. In diesem Fall auf Abtreibung.

Über die Arbeit der Organisation, die 1999 von der holländischen Ärztin Rebecca Gomperts gegründet wurde, gibt es einen eindrücklichen Film – «VESSEL», was übersetzt soviel wie Schiff heisst und zugleich ein Symbol für Frieden ist.

Auf den «waves» – den Wellen des Internets und auf den Wellen des internationalen Gewässers, wo die Gesetzgebung des in Holland immartikulierten Schiffs gilt – unterstützen Organisatorinnen weltweit die Abtreibung mit «Misoprostol», ein vielerorts zugängliches Medikament, das in Therapie und Prävention von Magengeschwüren eingesetzt wird und im Nachhinein kein Abbruch nachgewiesen werden kann.

Der Film zeigt, wie weltumspannend das Leid ungewollt Schwangerer  ist: Tondokumente von hilfesuchenden Frauen, die in Armut leben; von Frauen, die vergewaltigt wurden; von Unverheirateten, die ermordet würden … Erschütternd und unerträglich. Auch die Vehemenz der Gegnerschaft, die im Namen der jeweiligen Gesetzgebung Betroffene kriminalisiert.

Einmal reden unterstützende Frauen über den «Backlash» – den Rückschlag in der voranschreitenden, fortschrittlichen Entwicklung – und kommen zur stärkenden Erkenntnis: «zulassen ist Selbstzensur.»

Danke für diesen Gedanken. Auch in andern Zusammenhängen kann er wirken.

(Ausschnitt aus «VESSEL»)

Norm

Und wieder rutscht es über die Lippen, dieses Genormte. Immer wieder einmal, erwischt es einen unverhofft. Dabei haben wir in unserem Leben soviel Gedankenarbeit geleistet, die Norm reflektiert, sie vielfachst zur Seite gelegt – meist auch sprachlich. Und dann, hockt sie plötzlich bei der einen oder der andern auf der Lippe und hat die Zunge bereits verlassen, fällt von da auch noch runter und konfrontiert die Runde heftigstens mit der Tatsache, dass die Norm tiefer hockt als erwünscht.

Wie damit umgehen – negieren, reagieren? Wie darüber denken – beschämt, erstaunt, konsterniert?

Als ich im Bett liege und über die kurz davor erlebte Situation nachdenke, realisiere ich, dass wir trotz aller Denkarbeit noch immer verstrickt sind mit der Norm, die wiederum mit unserer Kultur so verstrickt ist.

Beschämung, Erstaunen und Konsternation lösen sich auf in Lachen. Sagte da nicht einmal jemand zu mir: «Barbara, laugh – it opens your mind» (nachzulesen in «mind»). Wir recht er hat.

Lachen  lüftet den Kopf und hilft auch in diesem Fall, die Peinlichkeit zu normalisieren.

 

 

Haltung

Um meine Ohren nicht in jedes überlaute Gespräch reinzuhalten, entfalte ich zu Beginn der gut 30-minütigen Bahnfahrt die Neue Zürcher Zeitung zum Vollformat (47x64cm) und bin damit für alle Mitreisenden als «Fossil» erkennbar. Wer liest in Zeiten der Kleinstformate noch gross Papierenes – damit meine ich nicht das Inhaltliche.

Denn was ich auf Seite 5 lese, lässt mich am Ende des Artikels über die Grenzen der persönlichen Bereitschaft reflektieren.

Die chinesische Journalistin Gao Yu war schon zweimal im Gefängnis. Im Frühjar wurde die 71-jährige Regimekritikerin nochmals zu fünf Jahren Haft verurteilt und nun aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend entlassen.

Ich lese, wofür sie bestraft worden ist: Angeblich hat sie, so die Anklage, geheime Dokumente der Kommunistischen Partei Chinas beschafft und diese an eine in den USA ansässige chinesische Webseite weitergegeben.

Bei den weitergeleiteten Unterlagen soll es sich um «Dokument Nr. 9» handeln. In diesem wird aufgelistet, worüber an chinesischen Universitäten und in den Medien nicht gesprochen werden darf – über Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.

Auf der Rangliste der Pressefreitheit, erstellt von «Reportern ohne Grenzen», belegt China unter 180 Staaten Rang 176.

Gao Yu hört trotz Torturen und weggesperrt werden, nicht auf, sich als Bürgerin und Journalistin für die Grundwerte einzusetzen.

Mein Respekt vor soviel persönlichen Bereitschaft und Haltung.

 

(Link zum Artikel: http://www.nzz.ch/international/gao-yu-in-china-aus-haft-entlassen-1.18653658)

 

 

 

provozieren

Wir stehen in einer kleinen Gruppe an einem Partytisch und trinken zusammen noch einen Kaffee. Die eine Kollegin, etwas jünger als ich, erzählt etwas konsterniert von ihrer Begegnung mit einem Kundenberater. Dabei ahmt sie dessen Dialekt und Duktus nach, indem sie ihre Geschichte mit «hey, Mann» beginnt. Als sie sich nach einem neuen Handy erkundigte, hätte der junge Mann unter anderem darauf hingewiesen, dass es Geräte gebe, die für ältere Menschen mit entsprechend grösseren Tastaturen ausgestattet seien.

Die Erzählerin regt sich beim Wiedergeben der erlebten Situation erneut auf und ärgert sich erst recht, als ich trocken meine, dass sie bei einem aufmerksamen Kundinnenberater gelandet sei: «Wir sind für ihn doch alte Frauen – du und ich!»

Sie schluckt leer. Das Vorgefallene findet sie nach wie vor respektlos und mich erst recht daneben. Ich lege ein weiteres Briquet aufs Feuer und sage: «Dem Mann ist möglicherweise aufgefallen, dass du lieber die Augen zusammenkneifst, als dass du eine Brille trägst.»

Ja, ich provoziere immer wieder mal gerne. Doch manchmal hilft’s, um übers eigentliche Thema reden zu können. Ich weiss, dass ich damit vielen zu nahe trete. Und doch mache ich’s.

Aber an diesem Morgen lassen wir das Essenzielle schlummern und wechseln lieber das Gesprächsthema. Allerdings nicht wegen mir.

zuversichtlich

Ich habe Rosen mitgebracht – gelbe, weil ich weiss, dass er diese Farbe besonders mag. Er öffnet die Verpackung und freut sich übers Geschenk. Achtsam stellt er die Blumen ins Wasser – diese Sorgfalt bei allem, berührt mich nicht nur jetzt, wo wir zusammen in der Küche stehen.

Heute muss ich nicht viel fragen. Er beginnt von selbst zu erzählen, vom Eingriff am Herz und der langwierigen Rekonvaleszenz. «Dabei», sagt er, «war ich vorbereitet fürs Loslassen.» Jetzt sei er aber ebenso froh, dass es ihn noch gebe. Und sein Partner, der nun neben uns steht, meint sichtlich erleichtert: «Ja, wir haben wieder einmal Abschied geübt.»

Zum Kaffee setzen wir uns in die Sessel, in denen wir immer sitzen, wenn ich sie besuche. Daran hat sich nichts geändert.

Schon bald reden wir übers Leben und was kommt. Ich erzähle von meinen Plänen, nächstes Jahr erneut nach Island zu gehen – dann aber ins winterliche. Auch sie kennen das Land vom Wandern. Sie erinnern sich, wie sie ein einziges Mal auf einem Island-Pferd ritten – der weniger Bewegliche besser als der Wendigere. Das war vor 16 Jahren.

«Das stimmt zuversichtlich», sage ich zu den beiden 85-Jährigen, die in diesem Frühjahr noch in den USA waren – und meine damit nicht nur das Reisen.

Domin

Als ich vor wenigen Tagen zwei Gedichte von ihr las, wollte ich erst beide miteinander in den Sonntag schicken, da mich sowohl das eine als auch das andere berührte. Doch dann realisierte ich, dass das eine das andere konkurrieren würde. Und letztlich verdient jede Kostbarkeit die entsprechende Wertschätzung.

Doch ohne den Mut
die Hand in der Hand zu halten
ohne den Mut
ganz hier zu sein
werden wir täglich
ärmer.

(Hilde Domin)

Montag

Ich stehe, wie fast jeden Montag, gegen 17 Uhr auf der grünen, gummierten Matte. Wir vier Frauen dehnen, drehen, biegen und balancieren unsere Körper so gut wie möglich nach den Anleitungen unserer «Lehrerin». Gewisse Übungen – eine Kombination zwischen Pilates und Yoga – schaffe ich. Einige bereiten mir Mühe.

Unlängst erzählte ich Doris von meiner ungenügenden Körperbalance. Noch während ich ihr die Übung beschreibe, lieg sie schon auf dem Küchenboden, hebt ihre Hüfte, streckt das eine Bein in die Länge, die Arme in die Höhe und will wissen, ob sie meine Worte richtig versteht: «Meinst du so?» Ja, schon.

Auch sie realisiert, wie ihre Wendigkeit nachgelassen hat. Als sie mir wieder gegenüber sitzt, mache ich deshalb den naheliegenden Vorschlag des gemeinsamen Übens.

Ihr konsternierter Blick, ihr kurzes Schweigen interpretiere ich bereits als Absage. Doch nach der fast schon dramaturgisch gesetzten Pause, sagt sie in die Stille: «Das ist für mich der Inbegriff von ALT.»

Ich lache und sehe zugleich meine Eltern, wie sie bis ins hohe Alter täglich turnten – mein Vater um einiges ungelenker als meine Mutter.

An beides muss ich kurz denken, als wir vier Frauen gegen das Ende der Stunde auf dem leicht gebogenen linken Bein stehen, das rechte anheben und unsere Arme seitlich in die Länge dehnen, so als ob wir aufs Abheben warten würden.

 

wieder

Und wieder werde ich von dort nach dort fahren. (Vielleicht werde ich, wenn dieser Satz gelesen wird, bereits dort sein – vielleicht im Büro, vielleicht beim Turnen oder Nachtessen mit meinen Freund, der sonst in Schweden lebt).

Bevor ich aber von dort nach dort reise, packe ich einmal mehr meine Tasche mit allem möglichen: mit Computer, Brillen, Agenda, Schlüsseln … Und auch mit Büchern («Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» von Swetlana Alexijewischt und «GEHEN, GING, GEGANGEN» von Jenny Erpenbeck), damit ich dort lesen kann, womit ich dort begonnen habe.

Und einmal mehr schaue ich davor Doris in die Augen – am Spiegel, während des Frühstücks, beim Abschied. Und einmal mehr werde ich kurz darauf ein letztes Mal zurückblicken.

Alles Wiederholungen, die sich als «einmal mehr» notieren lassen.

Doch jede Wiederholung ist letztlich etwas Wiederkehrendes, das auch im Wiederkehrenden nichts anderes ist, als ein einzigartiger Moment.

Spiel

Wir verabschieden uns von einander gegen 21 Uhr. Die eine wird von der anderen heimgefahren. Mich fragt sie, ob ich ebenfalls mit will. «Danke fürs Angebot», sage ich und weise darauf hin, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Worauf die andere, die im selben Quartier wohnt wie ich und wir deshalb schon oft miteinander nach Hause radelten, zu meinem Erstaunen sagt: «Nein, in der Nacht fahre ich nicht mehr Velo, das ist mir zu gefährlich.»

Ich denke an früher. Oft machte sie sich über uns lustig. «Weichlinge» nannte sie uns, weil wir unsere Fahrräder bei Schnee und Kälte lieber im Keller überwintern liessen.

Die Zeiten ändern sich. Das sage ich aber nicht.

Verändert hat sich auch unsere Jassrunde. Die ursprüngliche Viererrunde gibt es seit dem Tod meiner früheren Lebenspartnerin nicht mehr. Nun ist die Zusammensetzung immer wieder mal anders, der Kern trifft sich seitdem auch nicht mehr in derselben Häufigkeit und inzwischen sagt eine meiner Freundinnen: «Ich spüre das Alter, meine Konzentration lässt einfach nach.»

Obwohl sich die Zeiten ändern und wir inzwischen alle pensioniert sind, bleibt einiges unverändert. Die Leidenschaft fürs Tennis zum Beispiel. Dieses Mal wird unsere Runde deswegen relativ schnell aufgelöst. Denn die beiden leidenschaftlichsten – die bald 80-Jährige und die bald 70-Jährige – wollen ungestört mit Roger Federer mitfiebern, der gegen Novak Djokovic spielt und letztlich den Match wegen oder trotz seines Alters für sich entscheiden kann.

Soviel zum vergangenen Dienstag – 16 Stunden bevor bei mir  Wochenende war.