unbegreiflich

Swetlana Alexijewitscht, die 2015 den Nobelpreis für Literatur erhielt, sammelte sieben Jahre lang (1978 – 1985) Geschichten von Frauen, die während des zweiten Weltkrieges in der Roten Armee an vorderster Front kämpften. (Insgesamt war es eine Million Frauen). In «DER KRIEG HAT KEIN WEIBLICHES GESICHT» lässt die 68-jährige, weissrussische Journalistin unzähligste Kämpferinnen zu Wort kommen. Jede Erzählung ist erschütternd.

Auf den letzten Seiten spricht Tamara Stepanowna Umnjagina (Garde-Ungteroffizier, Sanitätsinstrukteurin). Ihre Eindrücke gebe ich hier, stellvertretend und vergekürzt wieder:

«Wenn ich davon erzähle, werde ich ganz krank. Ich erzähle, und innerlich bin ich wie aus Gelee, alles zittert. Ich sehe wieder alles vor mir: Die Toten wie sie da liegen – ihre Münder sind offen sie haben geschrien und sind mitten im Schrei verstummt, die Gedärme hängen raus. Ich hab in meinem Leben mehr Tote gesehen als Brennholz … so viel Schreckliches! Ganz schlimm ist es im Nahkampf, wo die Menschen mit Bajonetten aufeinander losgehen … Mit blankem Bajonett. Man fängt an zu stottern, ein paar Tage kriegt man kein Wort richtig raus. Man verliert die Sprache. Wer versteht das schon, wer nie dort war? Und wie soll man das erzählen? Mit welchen Worten. Mit was für einem Gesicht? Andere können das irgenwie … Sind dazu fähig … Ich nicht, Ich weine. Aber man muss erzählen, man muss, damit das bleibt. Man muss es weitergeben Irgendwo auf der Welt muss unser Schrei erhalten bleiben … Unsere Klage … Unser Atem …

(…)

Wissen Sie, was wir alle im Krieg dachten? wir träumten: <Ach, Kinder, das möchte ich noch erleben … Nach dem Krieg werden die Menschen so glücklich sein! Dann bricht ein glückliches, schönes Leben an, Die Menschenm die so viel durchgemacht haben, werden Mitgefühl füreinander haben. Liebe. Das werden andere Menschen sein.>

Aber es hat sich nichts geändert. Nichts. Die Mensch hassen einander immer noch und töten sich gegenseitig Das ist das Unbegreiflichtste für mich …»

(aus: «DER KRIEG HAT KEIN WEIBLICHES GESICHT», Swetlana Alexijewitsch)

 

wieder

Und wieder werde ich von dort nach dort fahren. (Vielleicht werde ich, wenn dieser Satz gelesen wird, bereits dort sein – vielleicht im Büro, vielleicht beim Turnen oder Nachtessen mit meinen Freund, der sonst in Schweden lebt).

Bevor ich aber von dort nach dort reise, packe ich einmal mehr meine Tasche mit allem möglichen: mit Computer, Brillen, Agenda, Schlüsseln … Und auch mit Büchern («Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» von Swetlana Alexijewischt und «GEHEN, GING, GEGANGEN» von Jenny Erpenbeck), damit ich dort lesen kann, womit ich dort begonnen habe.

Und einmal mehr schaue ich davor Doris in die Augen – am Spiegel, während des Frühstücks, beim Abschied. Und einmal mehr werde ich kurz darauf ein letztes Mal zurückblicken.

Alles Wiederholungen, die sich als «einmal mehr» notieren lassen.

Doch jede Wiederholung ist letztlich etwas Wiederkehrendes, das auch im Wiederkehrenden nichts anderes ist, als ein einzigartiger Moment.