nicht vergessen

So, morgen Mittwoch ist das Leben Realität, das ich seit einigen Monaten als Gedanken in mir trage und worüber ich in meinem allerersten Blogbeitrag «noch vieles unscharf» (22.2.15) geschrieben habe: Morgen bin ich offiziell Rentnerin.

Hätte ich es vergessen, hätte mich gestern, als ich den während meiner Island-Reise zurückgestellten Postberg abbaute, der Brief der Pensionskasse «Betreff Altersrücktritt»* (Altersrücktritt fett geschrieben) daran erinnert. Die Fachspezialistin schrieb mir mit den zugestellten Unterlagen, dass ich per 1. Juli 2015 in den Altersruhestand trete und dass mir die Altersrente ab diesem Datum «vorschüssig» auf mein Konto überwiesen werde. Danke.

Ja, ab morgen bin ich offiziell und nicht nur gedanklich eine Seniorin, eine Pensionistin, eine Ruheständlerin … – im Duden sind insgesamt 12 Synonyme zu Rentnerin aufgelistet. Ich belasse es bei deren drei.

Vieles wird im neuen Lebensabschnitt irgendwann einmal beschwerlicher. Vieles wird aber ab sofort günstiger: Museums Eintritte (durchschnittlich zwischen vier und fünf Franken), das Jahres-Generalabonnement der Schweizerischen Bundesbahnen (um 895.– Franken),  Kinoeintritte (zwei Franken) und vieles mehr.

Heute an meinem Sommer-Stammtisch – auf der Sitzbank direkt über dem Wasser in der Frauenabteilung des Zürcher Seebad Enge – war neben meiner Island-Reise auch meine Pensionierung und die damit verbundenen Vergünstigungen ein Thema. Eine der Habituées erklärte, dass an den Kinokassen kaum jemals das Geburtsdatum verifiziert werde. Eine Kassiererin habe einmal erklärt: «Niemand will sich älter machen. Und deshalb wird auch kaum einmal nach dem Personalausweis gefragt.“

Interessant.

Und damit bin ich nach den Island-Geschichten wieder bei meinem ursprünglichen Blog-Thema. Nach den Ferien von den dauerferien befinde ich mich ab morgen definitiv in dauerferien und meinen Geschichten, bei denen ich nicht vergessen will, dass es unter anderem um meinen neuen Lebensabschnitt geht: um die Neuorientierung, die mir manchmal (nicht) leicht fällt.

* Nachtrag: «Altersrücktritt!»?, Doris, meine Lebenspartnerin, macht sich laut und lachend Gedanken zum Betreff des Pensionskassenbriefes: «Was für ein Wort!», sagt sie: «Kann man wirklich vom Alter zurücktreten?» Wohl kaum. Jedenfalls habe ich noch nie jemanden gesehen, dem oder der es gelungen ist. Aber schon von vielen gehört, dass sie es sich  wünschten.

Was denkst Du, liebe Blogleserin, lieber Blogleser? (Kommentar erwünscht).

anpassen

Ich lache und sage, als ich heute morgen mit Doris telefoniere: «Das ist ein total guter Input für meinen Blog – darüber werde ich heute noch schreiben.»

Und zwar ist ihr aufgefallen, dass Amseln, weil sie sich in Konkurrenz mit all den vielen Umweltgeräuschen befinden, hier viel lauter pfeifen als auf Island. Wenn sie in unserer Umgebung, wo das Total an Geräuschen grösser ist, gehört werden wollen, meint Doris, dann seien sie eben gezwungen, einen Trillerzacken zuzulegen: «Du siehst», sagt sie: «Auch Amseln müssen sich anpassen!» Und lässt damit offen, wie fest sich jede von uns wieder anpassen wird, wenn sie sich in den Alltag einordnet.

Ich gehe also zur Post (Kategorie: angepasst) und nehme die zwei Kilo an zurückgelegtem Papier in Empfang. Zu Hause sortiere ich in private Post, zu bezahlende Rechnungen (angepasst) und Selbsterledigtes, das ich ungeöffnet zur Seite lege (nicht angepasst) – am Ende sind es ein Häufchen und zwei grosse Beigen.

Als ich beim ersten A5-Couvert meine eigene Handschrift entdecke, muss ich lachen. Welch ein Zufall. Es ist ein Brief, den ich anfangs April, also lange vor meiner Abreise, dem isländischen Ruderverband per Post schickte, weil keine der auf der Webseite angegebenen Mailadressen stimmte. Meine Frage war damals sowohl in den Mails als auch auf Papier, ob es eine Möglichkeit gäbe, in Reykjavik zu rudern. Wochen später liegt nun mein Brief im zurückgelegten Postberg, ist mit einem rosa Kleber versehen, der auf englisch und isländisch informiert, dass die Adresse unbekannt sei und damit hat sich diese Frage von selbst erledigt!

Ja, damit ist ebenfalls zu rechnen, dass meine Island Geschichten noch eine Weile andauern, bis sie sich von selber erledigen, weil ich mich wieder angepasst habe und wie die Schweizer Amseln lauter zwitschern werde, als ich es vorerst – noch nicht ganz angepasst – mache.

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das wird schon

Nachdem ich gestern, nachts um elf Uhr, doch noch die Islandkleider aus dem Koffer geräumt und anschliessend die gewaschene Wäsche im Keller aufgehängt hatte, fiel ich, irgendwann kurz vor ein Uhr, in tiefen Schlaf. Ich erwachte und erblickte vor mir Lavagestein, das sich noch dunkler von der dunklen Nacht abhob. Als ich genau hinschaute, war das Lavafeld in Tat und Wahrheit das Buschwerk des Laubbaumes, der in einer Distanz von drei Metern vor meinem Schlafzimmerfenster steht. Soviel zum Thema von gestern, das ich mit dem Gedanken beendete: «Bis wir – ich und meine Seele – angekommen sind, braucht es seine Zeit.»

Am frühen Morgen, beschloss ich mit dem Fahrrad zum Rudern zu fahren, dessen Räder ich bereits zwischen Wäsche waschen und aufhängen mit genügend Luft gefüllt hatte, damit ich am Morgen gleich losradeln kann. Ich dachte, fürs Ankommen im Alltag wird mir dies sicherlich gut tun – noch fast alleine übers Wasser zu gleiten und die Balance zu finden, auch die innere. Letztes Jahr habe ich im Ruderboot Kilometer mässig fast die Strecke Zürich – Reykjavik zurückgelegt; viel hatte jedenfalls nicht mehr gefehlt.

Und so sass ich also bereits kurz nach halb sieben Uhr (Schweizer Zeit) auf dem «Zuerichfjördur», was übersetzt soviel heisst wie «Zürichsee», der in seiner Länge (42 Kilometer) und seiner Breite (3,8 Kilometer) einem isländischen Fjord entspricht – allerdings so dicht besiedelt ist, wie nichts in Island. Deshalb war ich mir, trotz meditativem Rudern, immer bewusst, wo ich mich befinde.

Die Fahrt, das Schweben übers Wasser tut mir gut – ich mit mir und Boot im Einklang. Der Koinzenzidenz werde ich mir erst auf dem Heimweg bewusst: Fürs Einfinden ist das Rudern einmal mehr notwendig und das Boot, das ich für diese Fahrt ausgewählt habe, heisst: «de nötig».

Es war ein schöner Morgen. Ich war sogar noch dabei, als sich vier Ruderfreundinnen am «Sunday Race» auf den ersten Platz ruderten und wir freuten uns gemeinsam über den Wanderpokal. Doch zu mehr hat es nicht mehr gereicht. Kein Schwimmen im See, keine weiteren Unternehmungen – nur noch Rückzug in die eigenen vier Wände. Durch dieses Annähern werde ich vielleicht schon bald ganz selbstverständlich «grüezi Züri» sagen und es auch meinen, weil ich «Þetta reddast« vertraue: «Das wird schon».

grüezi Züri

Der Begrüssungsslogan am Zürcher Flughafen ist eigentlich immer ein Schock, woher ich auch immer anfliege. Ich ertrage es jedes Mal kaum – dieses Cleane, Propere, Spiegelnde und dieses Vermarkten «unseres» Schweizer Luxuses, symbolisiert durch Nobel-Schokolade, Nobel-Uhren, Nobel-Banken …

So war es auch heute. Die Landung war entsprechend hart. Sie hatte zwar keinen Bruch von Nase und Brille zur Folge wie der Misstritt im Lavafeld. Doch wenn Doris und ich zusammen ein gutes Wegstück durch unsere Ferien reisen, ist die geografische Trennung am Ende der gemeinsamen Zeit immer wieder schwierig – sie geht zurück an den Bodensee und ich besteige den Zug in die Gegenrichtung, nach Zürich. Da liegt für viele, die uns noch nicht so gut kennen, der Gedanke schon fast auf der Hand, beziehungsweise die Frage auf der Zunge: Weshalb kein Zusammenziehen, würde doch vieles viel einfacher machen? Sicher wäre dies eine Möglichkeit, aber wir finden beide, dass sie nicht unseren Leben entspricht, weil wir beide mit unseren Biografien dort verwurzelt sind, wo wir wohnen und unsere Arbeit ist oder, was mich anbelangt, bis zur Pensionierung war. Selbst im meinem neuen Lebensabschnitt wollen wir diese Form beibehalten, weil sie auch bereichert – so empfinden wir es wenigstens beide. Deshalb gehört inzwischen zu gemeinsamem Leben und Zusammensein das Pendeln zwischen «hier-und-dort», «dort-und-hier». Nichts desto trotz: «Grüezi Züri» stimmte mich heute nach der Landung der Icelandair nicht freudig.

«Und?», werden sich nun wohl einige fragen: «Was hast du nach sieben Wochen Island als erstes gemacht?».

Ich habe Koffer, Rucksack und Tasche gleich beim Wohnungseingang auf den Boden gestellt, wo sie vier Stunden später noch immer liegen, und freute mich über Karte und Blumenstrauss, die mir meine Nachbarin zur Begrüssung auf den Tisch gestellt hatte. Dann legte ich mich aufs Bett, schloss die Augen, hörte das Rauschen des Windes, im Dialog mit den Blättern. Dabei dachte ich, etwas traurig: «So ein Irrsinn: Keine 12 Stunden später und über 2500 Kilometer südlicher mache ich fast als erstes dasselbe wie in Reykjavik als letztes.»

Kein Wunder; da kann die Landung nicht sanft sein. Da hilft zur Begrüssung kein «grüezi Züri». Da benötigen wir – meine Seele und ich – wohl eher ein Isländisches »Þetta reddast«, was soviel heisst wie: «Das wird schon».

Ade Island

Noch ein Tag und eine Nacht auf Island – dann sind die sieben Wochen, die ich bewusst zwischen Ende Berufsarbeit und Start ins Leben als Pensionierte geschoben habe, vorbei. Denn morgen ist nach 47 Tagen Ferien Rückkehr oder Heimkehr in die Schweiz

Gestern sind Doris und ich am Abend nach Reykjavik gekommen – quasi ein Abend und ein ganzer Tag als Eingewöhnung an Verkehr und städtisches Leben. Es ist ein wunderbarer Abend. Die Leute treibt es durch die Strassen und auf die Plätze. Der Austurvöllur, mitten in der Innenstadt, quillt beinahe über. Das Grün des Rasens, wo auch das Denkmal für Jón Sigurðsson steht, der sich um die Selbständigkeit Islands von Dänemark bemüht hatte, ist kaum mehr zu sehen. Die angrenzenden Restaurants und Kaffees platzen aus allen Nähten – kein unbesetzter Stuhl im Freien. Doris und ich beobachten von unserer Parkbank all die Leute, die vor unsern Augen den Sommer geniessen. Wir sind uns einig: So vielen Menschen wie hier auf dem einen Platz sind wir während unserer ganzen Reise durch die Westfjorde insgesamt nicht begegnet.

Morgen Samstag, in aller Frühe, werden wir also Island verlassen und damit auch eine Weite, wie es sie zu Hause nicht gibt. Vor allem auf den Westfjorden haben wir eine Stille und Ruhe erlebt, wie noch nirgends – eine Landschaft, die nebst unsern eigenen Geräuschen nur nach dem klingt, was sie selber produziert: Wind, Wasser, Tiere. Eine Einsamkeit, wo es vorkommen kann, dass das erste Auto einen nach zwei Fahrstunden kreutzt.

Angereichert mit unglaublich vielen Eindrücken und Erlebnissen werden Doris und ich morgen in unseren Alltag zurückfliegen, der so anders sein wird als die unmittelbare Vergangenheit. Gefüllt von dieser zurückliegenden Zeit werden wir zu Hause wiederum Schönes entdecken, zusammen mit unseren Freundinnen und Freunden. Darauf freuen wir uns beide auch.

schön schöner

Der Besitzer des Hotels «Latrjabarg» riet uns, die Bucht von Keflavik zu besuchen, wenn wir Einsamkeit suchen würden. Die Bucht mit der roten Schutzhütte liege wunderschön in der Senke eines Kliffs, in deren Reihe sich auch Latrjabarg, der Vogelfelsen schlechthin, befindet. Wir müssten allerdings, wenn wir dorthin fahren würden, zu Beginn der Anfahrt drei Steinmänner mit mindestens drei aufeinander gelegten Steinen bauen, so fordere es die Legende. Nur so sei gewährt, dass wir den Tücken dieser Bucht wieder entkommen würden.

Nach dem Erwachen machen wir uns auf zum Besuch der empfohlenen, einsamen Bucht. Auf der Zufahrt passieren wir links und rechts der Schotterstrasse hunderte von Steinmännern und Steinfrauen verschiedenen Ausmasses. Wir halten und bauen die unseren. Damit wir beide sicher zurück kommen, machen wir gleich deren sechs – drei für jede von uns.

Für den letzten, steilen Teil lassen wir unser Auto stehen und wandern zum Strand. Von weitem sehen wir die rote Schutzhütte und davor den grossen Stein – grau mit Rottönen. Je näher wir kommen, verwandelt sich der Stein in einen toten Wal. Er liegt dort, kaum verwest; es stinkt. Im Gästebuch, das in der Hütte aufliegt, lesen wir, dass der Wal bereits vor sechs Jahren dort gestrandet ist. Möglicherweise haben sich Vögel, die sich an ihm satt essen wollten, dabei vergiftet. Denn noch nie sahen wir so viele Kadaver herumliegen.

Irgendwie kann es nicht sein, dass dieser Ausflug zur «Bucht der toten Tiere», wie ich sie umbenenne, unsere Reise durch die Westfjorde beenden soll. Doris findet, wir könnten doch noch zum roten Strand fahren. Rauðisandur liegt am Ende der Latrjabarg Kliffe in einem grün, grüner am grünsten Tal. Der davor gelagerte Strand ist sicherlich zwei Kilometer breit und 10 Kilometer lang. Einfach grandios. Schön, schöner …

Zur Abendsonne sitzen wir noch im einzigen Kaffee und blicken zur Halbinsel Snæfellsnes, da wo ich Doris am Mittwoch die Pizzeria, das Pavillonkaffee, Knuddel-Diana – einfach mein Stykkishólmur zeigen werde.

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Unschärfe

Das hatte ich noch nie – 26 Stunden lang Geburtstag. Denn meine langjährigste Freundin schickte mir ihre Wünsche um Mitternacht. Bei mir war es wegen der Zeitverschiebung noch Samstag. Um zehn Uhr abends stand die Sonne noch immer am Horizont, die Bergspitzen noch immer nicht ins Abendrot getüncht, meinte Doris: «Ja, ich halte mich auch an die Schweizer Zeit.» Und so bin ich zu den zusätzlichen, zwei geschenkten Stunden gekommen.

Am Sonntag, als wir erstmals aus dem Fenster schauen, ist die Sonne weg, beziehungsweise über dem Nebel. Etwas später, kurz nach fünf Uhr, machen wir uns auf den Weg zum westlichsten Zipfel Europas. Noch immer ist es neblig und so wird es auch den ganzen Tag bleiben.

Bei allem, was wir entdecken, sehe ich die Parallelen zu meinem neu beginnenden Leben als Pensionierte: Die Farbigkeit, die Weite – sie erinnern mich an das, was mich in den 64 Jahren geprägt hat. Vor mir der Weg, der mich in den nächsten Lebensabschnitt führt – doch wohin? Vieles wird ähnlich, wie es bereits war; vieles liegt, so wie die Natur, die wir durchreisen, in nebulöser Unschärfe und wartet auf seine Ausgestaltung.

Was werde ich aus Island mit nach Hause nehmen. Darüber reden Doris und ich oft, nicht nur am heutigen Tag. Ich weiss es noch nicht. Ich wünsche mir aber, dass es mir gelingen wird, mich so wie hier in den letzten Wochen auf das, was auf mich zukommt, unvoreingenommen einzulassen – trotz Rückkehr in Bekanntes und Alltägliches.

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toter Fisch

Und nochmals etwas zum Thema Fisch.

In Suðureyri gibt es um die 50 Fischer und einen «Fisherman», der den Riecher für das Geschäft mit dem Tourismus hatte. Er besitzt unter diesem Namen das Hotel, das einzige am Ort bis vor einem Jahr. Ihm gehört das einzige Kaffee, das einzige Restaurant und er vermarktet unter diesem Namen so in etwa alles, was es zu vermarkten gibt.

Als wir morgens um sechs Uhr bereits am Hafen stehen, sehen wir, wie zwei Fischerboote losfahren. 12 Stunden später stehen Doris und ich wieder am Hafen, als ein zurückgekehrtes Fischerboot anlegt. Die beiden Männer sind gezeichnet vom Tag. Nach ihrer harten Arbeit auf dem Meer, kommt nun noch das Löschen der Ladung an Land.

Die Fischernetze werden mit dem Hafenkran aus dem Boot gehoben. Je vier Kübel auf die vier Palette gehisst. Danach schwebt die Beute des Tagesaus aus dem Innern: Plastikbehälter um Plastikbehälter mit toten Fischen, die nach dem Fang bereits auf Eis gelegt sowie nach Art und Grösse sortiert worden sind: bis zum Rand gefüllte Bottiche an Dorsch, Kabeljau, Flundern und uns Unbekanntem.

Der eine der beiden Fischer öffnet an Land die Schraubverschlüsse am Fuss der Behälter – abgetautes, mit Blut vermischtes Eiswasser schiesst aus den Öffnungen. Am Ende stehen acht solcher Plastikbehälter auf dem Pier. Wir lassen uns sagen, dass der Fang dieses einen Bootes von heute sicherlich 4,5 Tonnen schwer sei. Es gebe aber auch Tage, da würden sie mit weniger als einer Tonne zurückkehren.

Am Abend sitzen wir bei «Fisherman» im Restaurant, freuen uns auf den bestellten Fisch und staunen, als wir zu einem Preis von 40 Schweizer Franken acht kleine Stücke auf dem Teller sehen. Vor wenigen Augenblicken wurden über vier Tonnen Fische, keiner kleiner als 40 Zentimeter, aus dem Boot gehoben und wir sitzen nun vor einer Portion, die sich keiner der 50 Fischer im Dorf leisten könnte und schon gar nicht seinen Hunger stillen würde.

Am Morgen, beim Frühstück, raten wir dem Wirtschaftsstudenten und Jungunternehmer, nach dem Guesthouse auch ein Restaurant zu eröffnen, um Alternative und Konkurrenz in den Ort zu bringen. Er meint: «Das ist in Planung. Wenn wir hier den Start geschafft haben, dann …»

Morgen Sonntag geht unsere Reise weiter. Dann fahren Doris und ich an den westlichsten Punkt Europas. Es wird der Tag sein, der mir zum Geburtstag spürbare Lebensveränderungen bringt, oder eben schenkt: nämlich Altersrente und dauerferien.

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riechender Fisch

Suðureyri ist unser Etappenziel vom Donnerstag – ein gepflegter, malerischer und überschaulicher Ort mit auffallend vielen farbenen Häusern aus der Jahrhundertwende. Die Ortschaft liegt am Südufer eines 13 Kilometer langen Fjords im Westen Islands, wo sich ein Fjord an den andern reiht. Keine 300 Bewohnerinnen und Bewohner leben hier, zwischen hohen Bergen, wo im Winter vier Monate lang keine Sonne scheint.

Suðureyri ist ein Fischerort mit einem klaren Verkehrskonzept: Der eine Strassenzug führt die Autos zum alten Hafen am Ende des Dorfes – entlang von vielleicht 20 Häusern – und auf der Parallelstrasse, an ebenso vielen Häusern vorbei, wieder zum Dorf hinaus.

Genau deshalb finden wir unser Guesthouse nicht auf Anhieb und fragen am Dorfrand den Postboten nach unserer Übernachtungsstätte. Als Doris elektronisch die Scheibe nach unten fahren lässt, flutet ein unsäglicher Fischgeruch ins Wageninnere, als ob wir neben einer Mülltonne mit Fischabfällen gelandet wären. Grausam.

Im Guesthouse erfahren wir, dass, im Gegensatz zu Norðurfjörður, der Fang der Fischer nicht nach Reykjavik verfrachtet, sondern im Ort selbst verarbeitet wird. In der einen Fabrik werden die Fische filetiert, in Lastwagen und später in Flugzeuge verladen, so dass sie keine 24 Stunden später, nie tief gefroren, in den USA und Grossbritannien als «frisch» verkauft werden können. Der Rest der filetierten Fische, der andernorts als Abfall im Meer landet, wird ebenfalls in Suðureyri verarbeitet, in der andern Fabrik am Dorfende.

Auf unserem Rundgang lesen wir auf der Informationstafel vor der Fabrik unter anderem, dass die Fischköpfe getrocknet und nach Nigeria exportiert würden. Im Hintergrund scheppern Trockenanlage und Abzug – kontinuierlich ist auch der Geruch. Wie lange tragen ihn diejenigen mit sich, die hier ihr Auskommen verdienen?

Der Besitzer des Guesthouses, Student in Reykjavik und Jungunternehmer, erzählt, dass viele junge Menschen weggezogen seien. Doch einige würden gerne wieder dahin zurück, wo ihre Wurzeln seien. Vielleicht trägt man, wenn man hier aufgewachsen ist, diesen Geruch, den nur ich übel finde, in sich, weil es ein Stück Heimat ist umd man weiss, dass Fisch und Tourismus Islands wichtigste Wirtschaftszweige sind, die Arbeitsplätze generieren.