Reich

Meine Schwester telefoniert, weil wir uns schon bald sehen werden, um gemeinsam zu feiern. Beide sind wir gut aufgelegt. Lachen, erzählen, witzeln.

Es ist Mittag an einem ganz gewöhnlichen Tag Mitte der Woche. Sie hat soeben das Morgenessen abgeschlossen, weil sie davor noch ausgiebig lange im See schwimmen war, da wo ich sie auch schon hinbegleitete und danach sagte, nun müssen wir einfach wieder vermehrt etwas zusammen unternehmen. Denn schliesslich bedeuten wir uns viel, schliesslich helfen wir einander immer wieder im Knöpfe lösen, die uns der Alltag beschert und schliesslich sind wir einander sehr verbunden.

Sie fragt, aus welcher Situation ich gerade komme. «Ich habe wieder einmal einen Blog geschrieben», sage ich, sie freut sich, ihn schon bald lesen zu können, weil sie in jüngster Zeit oft vergebens auf die Ankündigung gewartet hat.

Ich lache, weil ich weiss, wie gerne sie meine Zeilen liest, mir dafür manchmal sogar ein «danke» per sms übermittelt und konstatiere: «Jetzt bin ich wahrscheinlich einfach dort angekommen, wo du schon lange bist – im <dolce-far-niente>!»

Ihr Lachen bringt wiederum mich erneut zum Lachen. Erst recht, als sie meint: «Willkommen im Klub!» Konkreter: im Reich der Pensionierten!

Himmel

Da gibt es also fast jeden Montag die eine Bekannte, deren innere Balance sich im äusseren Gleichgewicht spiegelt. Da gibt es aber auch die andere Turnmatten-Nachbarin, die gleich alt ist wie ich, aber im Gegensatz zu mir, noch immer im Berufsleben steht, beziehungsweise sitzt und nach wie vor an einer regionalen Musikschule Klavier unterrichtet.

Wir lachen viel. Eigentlich lacht sie oft wegen mir, wenn ich wie ein angestochener Ballon den Atem ausschnaube, das Gewicht auf den Armen nicht länger halten kann, auf den Boden sacke und dazu noch eine Bemerkung fallen lasse. Dann ist sie mir dankbar, quittiert es mit dem entsprechenden Blick und versucht, es mir nicht nachzumachen.

Wenn wir jeweils schon vor Beginn der Turnstunde auf der Matte liegen, erzählen wir uns aus unseren Leben. So weiss ich von ihr, dass sie seit Wochen an einem Musiktück feilt, das den Fingern die ganze Fertigkeit abverlangt und den passenden Titel «Glühwürmchen» trägt.

Halb ernst halb spasseshalber sage ich: «Spiel es uns doch mal vor.»

Nun gut, einige Woche später erhalte ich als einzige unserer Montagsgruppe eine Einladung zu einem Hauskonzert an dem noch ein Duo auftritt – allesamt bekennende Verehrende der Glühwürmchen-Komponistin Amy Beach. Der Abend ist stimmungsvoll, so dass ich später Doris noch viel darüber erzählen mag.

Zwei Montage später liege ich wieder neben der Mattenbekannten. Begeistert erzähle ich, dass ich inzwischen ebenfalls zum Kreis der vor zwei Jahrhunderten geborenen amerikanischen Komponistin zähle. «Ich habe», ergänze ich, «gleich zwei Alben von ihr gekauft.»

Vorerst noch ehrfürchtig will sie von mir wissen, ob ich die Noten ebenfalls ausserordentlich schwierig finde. Ich erzähle nicht, dass ich lieber Handorgel als Klavier gespielt hätte. Und auch nicht, dass ich trotz sechs Jahren Unterricht nach der allerletzten Stunde keine einzige Taste mehr gedrückt habe. Ich erkläre ihr dagegen, dass ich mir die Alben als digitale Musik aufs Handy geladen habe und damit ist der Reiz einer Diskussion unter Fachfrauen bereits im Keim erloschen.

Dass diese Episode doch noch eine Fortsetzung haben könnte, hätte ich allerdings nicht gedacht.

Einen Tag später telefoniert sie und fragt mich, wie mir «ihre» Glühwürmchen gefallen hätten, ob ich ihre Unsicherheit bemerkt hätte.

Habe ich natürlich nicht. «Du sprichst mit einer Banausin», entschuldige ich mich, bevor ich erwähne, dass es mir sehr gefallen hat. Doch sie zweifelt weiterhin an ihrem Können, bis ich frage, ob es in Bezug auf Zufriedensein je ein Limit geben könne – «ist der Himmel nicht grenzenlos?»

Damit kann sie leben – der Himmel ohne Grenzen!

(hier ein Ohr voll «Glühwürmchen» / «Fireflies»)

Spirale

IMG_2947Das Badetuch direkt am Ufer des Bodensees, im Rücken der Baumstamm zum Anlehnen, am frühen Morgen noch die leichte Brise – meinen Körper kühlend -, das lädierte Bein gestreckt und leicht erhöht nach dem therapierenden Schwimmen im noch immer erfrischenden Wasser. Alles perfekt getuned für eine in sich ruhende Zeit, die mir, der leicht Handicapierten und sonst doch eher Rastlosen, viel Ruhe schenkt.

Ich lese und beobachte.

Zwei Frauen in meinem Alter, also auch pensioniert und mit ähnlich viel freier Zeit, wie es scheint, geniessen den Morgen ebenfalls. Sie schnadern – sich viel erzählend schwadern sie durchs Wasser, ihr Gerede wird leiser, ihre Köpfe werden kleiner, bis dass sie in der Ferne verschwinden und von ihnen nichts mehr zu hören und zu sehen ist.

Ich lese – noch immer im Buch «Mein weisser Frieden» von Marica Bodrožić. Sie seziert die Kriege auf dem Balkan und ich denke dabei an die Türkei, an das Machtgebahren Erdogan’s nach dem gescheiterten Putsch, wenn die Autorin schreibt: «Menschen, die nie gelernt haben, sich einer Autorität bis in die innersten Regungen zu verweigern, sind nicht in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das können nur Menschen, die sich selbst kennen und die erfahren haben, dass Wachsein Begegnung und Gespräch ist. Wo soll auch die Empfindung ihren Anfang nehmen, wenn nicht im eigenen Innern? Es gibt keinen andern Ort. Wer gehorcht, folgt der Sprache eines andern; wer folgsam ist, hat nicht gelernt zu denken.»

Ich lese. Schnadernd kündigen die beiden Frauen ihre Rückkehr an. Was für ein schönes Geschenk dieser Start in den Tag. Unbeschwertes hier.

Grauen dort – wann endet diese Spirale?!

 

 

 

Oski

Dieses Mal treibt mich der Hunger in die Quartierbäckerei und nicht der «Gluscht» (siehe meine Bloggeschichte «Schnecke»). Denn als ich zu Beginn des Morgens in meinem Atelier begann, Gedanken und Bilder zu sortieren, vergass ich, dass es Mittag ist und um vier Uhr nachmittags macht es keinen Sinnm mehr, das Verpasste nachzuholen, da mir abgesehen davon nun auch die Zeit fürs Hinsetzen fehlt.

Also nehme ich mit der Dynamik der vom Hunger Getriebenen die drei Stufen.

Drinnen begrüsst mich «Oski» mit seinem für ihn typischen «sali, wie häsch es». Zum Reden bleibt keine Zeit. Denn als es nur schon den Anschein macht, dass er, der pensionierte Bäcker und aushelfende «Ladenhüter», zu dem ansetzen könnte, was er so gerne macht, nämlich plaudern, atmet die Frau, die nach mir eingetreten ist tief und sagt: «Draussen liegt mein Kind im Wagen». Wir wissen, was sie damit meint.

Eine Stunde später stehe ich nochmals vor Oski, weil mein Hunger noch immer nicht gestillt ist.

«Sag mal, wie geht es auch deiner Partnerin?», fragt er aus dem Nichts und meint, er habe sie schon lange nicht mehr gesehen.

Wenn er das frische Brot von der Backstube im Keller in den Verkaufsladen hoch trug sah er jeweils kurz nach fünf Uhr Doris an der gegenüberliegenden Station aufs Tram warten, um zurück an den Bodensee zur Arbeit zu fahren. Dann winkten jeweils beide und lächelten.

Er fragt: «Habt ihr es nicht mehr gut?», schaut mir prüfend in Augen und Seele und bewegt dabei wiederholt die beiden ausgestreckten Zeigefinger aufeinander zu und wieder von einander weg.

Ich erkläre ihm, dass ihr dieses frühe Aufstehen mehr Energie fresse als früher und sie deshalb lieber am Abend noch zurück reise, als am eigentlichen Arbeitstag. Der Stress sei ihr mit zunehmendem Alter zu gross geworden. Nun würde ich, die Pensionierte, regelmässig und häufiger zu ihr reisen, als sie zu mir.

Er versteht, will wissen, was sie arbeitet, ist mit meiner Antwort zufrieden und sichtlich erleichtert. Zur Verabschiedung sagt er noch: «Lass sie von mir grüssen.»

Es ist nicht die gekaufte Süssigkeit die mein Herz erwärmt. Es ist diese Aufmerksamkeit, dieses Anteil nehmen, das mich berührt und begleitet, als ich ins Wochenende von dort nach dort zu Doris reise.

 

 

 

surfen

Wir haben vor Jahrzehnten zusammen das Büro geteilt, weil wir für dieselbe Redaktion Filmgeschichten realisierten. Er war damals schon ein begeisterter Fahrradfahrer. Mit seinem Rennvelo überquerte er Pässe – und zwar, wenn er mal loslegte, nicht nur einen. Dann zogen wir weiter, beide zu einer andern Sendung und sahen uns dadurch nur noch selten. Er war, was das Denken und Handeln anbelangte, immer ein Alternativer, ein Radikaler. Trotzdem schaffte er den Hierarchieschritt und blieb dennoch ein toller Kollege.

Und nun steht er, mit einem Bier in der Hand, angelehnt an einen Türpfosten und ich stolpere beinahe über seine Füsse. Eine gefühlte Ewigkeit ist’s her, seit wir uns letztmals sahen. Umso mehr freuen wir uns über das unverhoffte Zusammentreffen. Auf seine Frage «was machst du?», sage ich, was ihn wiederum nicht erstaunt: «Ich bin pensioniert.» Allerdings, ergänze ich, bin ich nicht mehr aktiv wie du. Denn er, 10 Jahre älter als ich, blieb nach seinem Abgang aktiv und realisierte noch regelmässig Filme – meist für Hilfswerke.

Das war einmal, meint er. Inzwischen habe er sogar sein Top-Rennrad seinem Sohn vermacht. Zu viele seiner inzwischen ebenfalls alten Kollegen seien mit dem Fahrrad gestürzt und mit gebrochenen Knochen im Spital gelandet. Vernünftig, denke ich und sage: «Da habe ich es mit Rudern einfach besser – aber nur solange ich es noch schaffe, ins Boot zu sitzen». Und schliesslich landen wir wieder beim Arbeiten, weil ich wissen will, womit er sich derzeit auseinandersetzt. Er mache nichts mehr, er habe aufgehört, erzählt er mir. Doch seitdem gebe es oft Tage, sagt er, wo er sich frage: «Und? Was mache ich heute?»

Um mit dieser Frage zu erwachen, erwiedere ich, muss nicht erst 74 werden, wie du. Dieses Gefühl kenne ich schon heute, mit 65. Wir lachen. Er bleibt mit dem Bier in der Hand stehen und ich surfe weiter durch meinen Tag.

 

 

 

 

weit

Die Rissigkeit des weissen Duvetgewebes deckt den grossen Flick, den ich mit dem Bügeleisen angeklebte, eher schlecht als recht. Und einen Waschgang später zeigt sich die Brüchigkeit des Stoffs noch woanders. Ich lasse es dabei bleiben, packe den dazugehörenden Kopfkissenbezug ein, weil ich beim selben Weiss schon einmal erlebte, dass das Weiss kein klares Weiss ist. Ich fahre zum Fachgeschäft und bestelle vom selben Hersteller einen neuen Bezug.

Die Verkäuferin hat Mühe im Katalog die entsprechenden Angaben zu finden. Sie fragt, ob ich mich einen Moment gedulden könne.

Aber ja, antworte ich. Schliesslich habe ich ja dauerferien.

Sie stutzt, schaut mich an, schon fast verschwörerisch und entgegnet: «Ich auch. Demnächst.» In eher suggestivem als fragendem Tonfall meint sie, ich würde es sicher geniessen.

Und ich – ich gebe meinen Standartsatz zum Besten: Nicht nur.

Dies wiederum kümmert sie nicht. Sie erzählt, was sie neben ihrer Tätigkeit als Verkäuferin sonst noch alles macht – Inneneinrichtungen als gelernte Dekorateurin. Und dann auch noch reisen – zum Beispiel «Venedig, vor einer Woche».

Ich auch – Vogalonga.

Nun flippt sie beinahe aus. Auch sie ist Ruderin. Allerdings reiste sie bereits am Vortag des Events, von dem ich heute noch zehre, wieder nach Hause.

An der Kasse dann, als es ums Bezahlen geht, erzählt sie in einer Ernsthaftigkeit, was sie nach der Pensionierung alles machen wird – «wenn ich daran denke, dass mir nur noch 40 Jahre bleiben, muss ich mich beeilen», sagt sie zugleich begeistert und auch entsetzt. Ich meine darauf lakonisch, dass ich schon 20 aktive Jahre viel fände, dann wäre ich ja bereits Mitte 80.

Die Verkäuferin, in einem Jahr pensioniert, erschrickt. Das hat sie sich noch nie so konkret überlegt.

Das gefühlte und biologische Alter klaffen bei ihr ganz offensichtlich weit auseinander, jedenfalls weiter als bei mir.

Schnecke

Die einen hüten, wenn sie pensioniert sind, noch regelmässiger ihre Enkelkinder, andere leben in den Tag oder reisen noch häufiger als früher. Und er, der 73-jährige, hütet von Montag- bis Freitagnachmittag «sein Kind», das er vor bald acht Jahren dem Nachfolger übergeben hat.

Am Montag treibt mich mein «Gluscht» auf etwas Süsses durchs Quartier. Als ich um die eine bestimmte Ecke biege, sehe ich sogleich, dass das, was mich unter anderem hierhin schlendern liess, bereits weg ist – die in Teig gebackenen Apfelringe. Dennoch nehme ich die drei Tritte, weil mir «Oski» entgegenlacht, als er mich sieht.

Wir begrüssen uns, wie wir das schon seit Jahren machen: «Sali, wie häsch es?» und die Antwort auf die Frage nach dem Befinden ist durch den Tonfall schon gegeben, ohne dass noch gesagt werden muss «guet».

Er zählt auf, was an Süssem zu dieser Zeit noch übrig geblieben ist. Ich wähle «contre coeur» eine Alternative und erkundige mich, als Pensionierte, ob es ihm, als Pensioniertem, gefalle, noch regelmässig im Laden der Bäckerei zu stehen, die nicht mehr die seine ist.

Drei Tage, wie bei der Übergabe einmal abgemacht, wären ihm lieber. Aber seine Herzallerliebste, sagt er, hätte bei der Bitte nach vermehrter Präsenz nicht nein sagen können.

Auf meine Bemerkung «typisch Salamitaktik» schmunzelt er und meint:  «Wenn du den kleinen Finger reichst, dann …» Dabei würde er gerne einfach so und ohne all die Werktätigen zur Rigi hochfahren oder auch einmal für etwas länger unterwegs sein, als dies früher möglich war.

Ich kann ihn bestens verstehen und sage es auch.

Das Gespräch unter uns Fachverständigen können wir diesbezüglich nicht mehr weiterzuführen. Der Laden füllt sich, wie meistens. Ich verabschiede mich, indem ich ihm symbolisch noch den positiven Gedanken über den Ladentisch werfe und sage, dass wir, die Kundschaft, froh sind, dass «sein Kind», die Quartierbäckerei, noch immer existiert – «nicht zuletzt dank deiner Anwesenheit, Oski!»

Seine Augen strahlen, noch mehr als sonst. Denn dieses Kompliment scheint für ihn ebenso süss zu sein, wie die Schnecke, die ich auf dem Heimweg genüsslich verzehre.

Projekt

Eine Woche lang werken. Dafür haben mein Arboner Freund und ich eine ganze Woche in unseren Agenden reserviert, nichts anderes geht vor, nichts ausser unserer Projekte, die nur mit gegenseitiger Unterstützung entstehen – wenigstens was das meine anbelangt -, so dass am Ende der Woche zwei Gemeinschaftsprodukte die Werkstatt verlassen werden.

Ohne sein Können geht bei dem, was ich machen will, nichts. Er sägt die Bretter, zeigt mir, wie ich bohren soll. Dreht mit der Maschine die Schrauben in das Holz. Erklärt mir, dass, wer etwas aufs Handwerk gibt, die Schrauben mit Schlitz gleich ausrichtet, selbst wenn sie an einem Ort sind, wo sie nicht gesehen werden können.

Und er wundert sich, dass ich nicht mit der gleicher Präzision meine Aufgabe löse. Der Abstand zwischen meinen Bohrlöchern, um mit Mikadostiften eine Schranke zu konstruieren, variert um Millimeter. Beim Einfügen realisiere ich ganz zum Schluss, dass die Untenseite sogar um ein gebohrtes Loch reicher ist, als die Oberseite. Ihn schauderts und ich bin glücklich über die Unregelmässigkeit, die sich daraus ergeben hat. Doch zufrieden sind wir beide, als wir am Abend des ersten Tages die Werkstatt verlassen und wir freuen uns auf Tag zwei, auf die Fortsetzung unserer Pensionistenprojekte.

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wünschen

Im Anschluss an dem vor Wochen abgemachten Termin zum Mittagessen bei Mutter mit krabbelndem Kleinkind sitzen die mich begleitende Bekannten und ich noch auf dem Platz, wo wenige Tage zuvor das Ritual gefeiert wurde, an dem Frauen bloss als Zuschauerinnen geduldet werden. Dieses ein Mal jährlich stattfindende Fest nennt sich Sechseläuten. Hier thront jeweils zu Beginn des Frühlings ein Schneemann, der nur so ausschaut, als sei er aus Schnee, auf einer Scheiterbeige, die Punkt 18 Uhr in Brand gesteckt wird. Dann kreisen Männer, sogenannte Zünfter, wie alte Krieger auf Pferden rund um den lodernden Berg gestapeltem Holz und der Schneemann versucht so lange seinen Kopf zu retten, wie er kann. Je schneller dieser weg fliegt, desto näher, so der damit verbundene Glaube, bzw. Aberglaube, liegt ein schöner Sommer.

Auf dem mit Marmor ausgelegten Sechseläutenplatz, der vor wenigen Tagen im Zentrum der Prophezeihung stand, sitzen wir zwei pensionierten Frauen nun, im Wissen, dass der Sommer kühl und nass ausfallen wird. Wir diskutieren über kriegführende Länder, die Flüchtlinge produzieren. Über die Schweiz, die ein Waffenausfuhrverbot kennt, dennoch Kriegsmaterial exportiert und doppelbödig argumentiert. Über Satire und die Konsquenz, dass nicht der Despot, der Präsident der türkischen Republik, der kurdische Dörfer zerstören lässt, im Zentrum der Kritik steht, sondern der Satyriker, der mit seiner verbalen Rundum-Schleuder aufzeigt, wie verletzlich in Deutschland Pressefreiheit ist.

Die Negativspirale zieht nach unten, uns beinahe auch, bis dass mein Gegenüber zu lachen beginnt, weil ihr in diesem Moment das Rezept der Lösung vorgeführt wird. Sie liest laut die Werbebotschaft, die mit dem Tram an ihr vorbeischwebt: «Sympany, ihre Krankenversicherung, macht das Leben einfach»!

Wir finden: Es gibt keinen bessereren Schlusspunkt, um unsere Begegnung aufzulösen. Wir verabschieden uns in der Hoffnung auf ein Wiedersehen – egal, ob bald oder in Wochen – und wünschen uns bis dahin einfach(es) Leben.

Tauben

In der Zürcher Vorortsgemeinde, dem Lebensmittelpunkt meiner Kindheit und Jugend, steige ich aus dem Zug. Ich treffe meinen Schwager. Wir haben in demjenigen Lokal abgemacht, in dem meine Eltern, als sie pensioniert waren, viel Zeit verbrachten. Meine Mutter ass ein Birchermüesli, schaute meinem Vater zu, wie er sich energisch, hörbar durch die Zeitungen blätterte und freute sich, wenn er ihr daraus das Interessanteste vorlas. So jedenfalls glaube ich die Erzählung der beiden gehört zu haben.

Das Kaffee, dessen Innendekoration sich heute aus einem Gemisch von Aglo-Kitsch und Voodoo-Zauber präsentiert, spielte nicht nur im Leben meiner Eltern eine Rolle. Es ist auch Handlungsort in Melinda Nadj Abonjis Roman «Tauben fliegen auf», für den sie sowohl den schweizerischen als auch den deutschen Buchpreis erhielt. Als ich das Buch vor wenigen Jahren las, fragte ich mich immer – könnte einer der beschriebenen Gäste auch mein Vater sein.

Im realen Leben – heute am Tag, als ich meinen Schwager treffe -,  sitzen vier alte Männer am Nebentisch. Sie sind so vertraut im Umgang, wie sie nur sein können, wenn sie sich regelmässig treffen. Sie reden von früher, vom Reisen – vor allem vom exotisch Kulinarischen: Von Seegurken -«schrecklich im Geschmack», von Fischen – «schauderbar fasrig», von Schildkröten – «klein geschnitten ist das Fleisch saftiger». Und der eine, der am Fenster sitzt, übertrumpft alle andern. Er erzählt vom «Neger», der mit einem langen, angespitzten Stecken auf Jagd ging.

Damals, als ich Nadj Abonjis Roman las, in dem dieser Ort «Café Mondial» genannt wird, entdeckte ich Gemeinsamkeiten mit der Protagonistin. Deren Familie kam mit Kindern als Emigranten ins neue Land und glaubte sich durch Unscheinbarkeit in den schweizerischen Alltag einfügen zu können. Bei uns war es ähnlich – allerdings mit dem Unterschied, dass meine Eltern (beide mit Schweizer Wurzeln), den Aufstieg von der Arbeiterklasse in die Mittelschicht schafften. Dieser Schritt ging einher mit sozialer Unauffälligkeit. Darum hatten auch nur die andern Recht. Wir nie. Meine Schwester und ich hatten jedenfalls lange, bis wir uns daraus befreiten.

Ein Glück, können Tauben auch fliegen.