heute

So etwas kann durchaus vorkommen, dass ich auf die eine oder andere Art bewusst mit meinem früheren Berufsleben konfrontiert werde. In den vergangenen zwei Jahren, seit meiner Pensionierung, ist es jedoch selten geschehen.

Schade, einerseits – gut so, andrerseits.

Es weist nämlich unter anderem darauf hin, dass ich mich mit Neuem, meinem jetzigen Leben adäquat auseinandersetze. Auch wenn ich oft daran zweifle und mich, ich gebe es zu, am Morgen beim Erwachen auch frage, was habe ich in meinem Leben bewegt, werde ich noch was bewegen.

Unlängst, als ich die Tageszeitung durchblätterte, lachte mir ein junges, frisches Gesicht entgegen. Die Frau, die einen Karrierenschritt vor sich hatte, kannte ich persönlich. In meiner Zeit, als ich beim Fernsehen tätig war, sass sie bei mir in Kursen. Nichts wies damals aufs Heute – gerade dies, ihre neue Herausforderung, die sie annahm, war es, was mich freute.

Ich setze mich kurz entschossen an den Computer und schrieb ihr eine Mail. Ich teilte ihr meine Freude mit und wünschte ihr Kraft für den neuen Abschnitt.

Einmal mehr fahre ich, nachdem viele Morgen seit dem Lesen der Erfolgsgeschichte vergangen sind, mit dem Zug von dort nach dort und mache, was inzwischen fast alle machen: Ich starre aufs Smartphone, rufe die elektronische Post ab und da «schwupp-t» ihre Mail rein. Sie bedankt sich, meint, von diesem neuen Job hätte sie nie zu träumen gewagt und eine meiner damals gemachten Aussagen trage sie noch immer durch ihr Arbeitsleben. Schon oft habe ihr meine damalige Motivation Entscheidungen erleichtert.

Du sagtest, schreibt sie, sei im Zweifelsfall mutig: «Langweiliges gibt es oft genug.»

Ihr Mail, bzw diese Nachhaltigkeit beglückt wiederum mich und ich hoffe, dass ich dann, wenn ich erneut mit dieser ekelhaften Frage «Was-bewege-ich-eigentlich noch» erwache, ihr Paroli biete, indem ich einfach mutig aus dem Bett steige und selbstbewusst den Tag beginne – so wie heute.

surfen

Wir haben vor Jahrzehnten zusammen das Büro geteilt, weil wir für dieselbe Redaktion Filmgeschichten realisierten. Er war damals schon ein begeisterter Fahrradfahrer. Mit seinem Rennvelo überquerte er Pässe – und zwar, wenn er mal loslegte, nicht nur einen. Dann zogen wir weiter, beide zu einer andern Sendung und sahen uns dadurch nur noch selten. Er war, was das Denken und Handeln anbelangte, immer ein Alternativer, ein Radikaler. Trotzdem schaffte er den Hierarchieschritt und blieb dennoch ein toller Kollege.

Und nun steht er, mit einem Bier in der Hand, angelehnt an einen Türpfosten und ich stolpere beinahe über seine Füsse. Eine gefühlte Ewigkeit ist’s her, seit wir uns letztmals sahen. Umso mehr freuen wir uns über das unverhoffte Zusammentreffen. Auf seine Frage «was machst du?», sage ich, was ihn wiederum nicht erstaunt: «Ich bin pensioniert.» Allerdings, ergänze ich, bin ich nicht mehr aktiv wie du. Denn er, 10 Jahre älter als ich, blieb nach seinem Abgang aktiv und realisierte noch regelmässig Filme – meist für Hilfswerke.

Das war einmal, meint er. Inzwischen habe er sogar sein Top-Rennrad seinem Sohn vermacht. Zu viele seiner inzwischen ebenfalls alten Kollegen seien mit dem Fahrrad gestürzt und mit gebrochenen Knochen im Spital gelandet. Vernünftig, denke ich und sage: «Da habe ich es mit Rudern einfach besser – aber nur solange ich es noch schaffe, ins Boot zu sitzen». Und schliesslich landen wir wieder beim Arbeiten, weil ich wissen will, womit er sich derzeit auseinandersetzt. Er mache nichts mehr, er habe aufgehört, erzählt er mir. Doch seitdem gebe es oft Tage, sagt er, wo er sich frage: «Und? Was mache ich heute?»

Um mit dieser Frage zu erwachen, erwiedere ich, muss nicht erst 74 werden, wie du. Dieses Gefühl kenne ich schon heute, mit 65. Wir lachen. Er bleibt mit dem Bier in der Hand stehen und ich surfe weiter durch meinen Tag.

 

 

 

 

Abschied

Ich weiss, heute ist Ostermontag, also ein Sonntag, und ich schreibe über den Montag davor, der für viele ein normaler Werktag war.

Für mich allerdings nicht.

Ich war da nämlich noch ein Mal mit meinem Freund und Arbeitskollegen am Ort, an dem wir zusammen vor vier Jahren einen Weiterbildungskurs entwickelten, den es in dieser Form davor noch nicht gab. Dieser eine Kurstag bedeutet nach meiner Pensionierung, dem Loslassen und neu orientieren, dass ich noch ein Mal Fernsehluft schnuppere und möglicherweise Veränderungen realisiere – in meinem Leben, im Leben der anderen, noch Werktätigen.

Und, wie könnte es auch anders sein, verändert hat sich einiges.

Inzwischen stehen sechs Kräne auf dem Areal des Fernsehens, das sich nur in seiner Bausubstanz vertieft und meine ehemaligen Vorgesetzten nehmen meine Anwesenheit nicht mehr wahr. Um ehrlich zu sein, irritierte und betrübte es mich, so deutlich zu spüren, dass ich defintiv in eine andere Welt gehöre.

Doch an meinem Engagement für Menschen und Arbeit hat sich nichts verändert.

Darüber sprechen wir, der Freund und Arbeitskollege, am Ende des Tages, als wir mit einem Glas Weisswein auf den erfolgreich verlaufenen Kurs anstossen. Wir sind uns einig, dass es ein höchst konzentrierter Tag war, der zwar alle forderte, aber auch allen etwas zurückgab: Wir konnten die Menschen, die mitten in ihrem Berufsleben stehen, stärken und sie wiederum bestärkten uns.

In diesem Zusammenhang fiel dann auch der Satz, der sich liest wie ein Fazit: «Nur das Schöpferische erschöpft sich nicht.» Mir wurde einmal mehr bewusst, welch gutes Team wir waren, das, wie in einem guten Spiel, die Pässe zu ungeahnten Kombinationen weitertreiben konnte.

Zum Abschied zücken wir die Agenda, weil wir uns auch deshalb nicht aus den Augen verlieren wollen.

bestärken

Auf der Bühne fliegen messerscharfe Sätze. Seziert wird der Mann in seiner Rolle. Das Stück von Sybille Berg «How to sell a Murderhouse» handelt von Geschlechterkampf, Emanzipation und Gleichstellung. Meiner Schwester und mir gefällt’s sehr, unserer Bekannten etwas weniger. Wir applaudieren vor allem anerkennend der jungen Schauspielerin, die die verunfallte Hauptdarstellerin (Caroline Peters) für die restlichen drei Vorstellungen zu ersetzen hat.

Anschliessend sitzen wir im Foyer zusammen, veruchen zusammenzufassen, weshalb uns die Genderkritik gefällt. Wir werden uns nicht ganz einig. Macht nichts. Jedenfalls fragt mich die Bekannte, ob ich auch einmal Schauspielerin hätte werden wollen?

Ja!

Ich erzähle, dass ich deshalb hier, an diesem Theater, während der  Mittelschulzeit als Garderobiere arbeitete. So konnte ich jeweils nach Beginn der Vorstellung fürs Stück in den Zuschauerraum. Und nachdem das Publikum jeweils gegangen war, tranken wir hier, wo wir nun ebenfalls sitzen, mit den Darstellenden Bier und Wein.

Das war vor 47 Jahren, als unsere Eltern fanden: «Schauspielerin ist doch kein Beruf». Überhaupt wuchsen meine Schwester und ich in einem Milieu auf, das uns eher zurückband als uns im Entfalten förderte.

Als ich zwei Tage später im wärmenden Bad meine Erkältung kuriere, sinniere ich über direkten und indirekten Kontakt zum Publikum und bin dann doch noch froh, dass ich erst beim nächsten Mal  «das ist doch kein Beruf» (Journalismus) hartnäckig blieb und als Quereinsteigerin zum  Fernseh-Journalismus fand – trotz vieler Zweifel. Doch gab es einige (nicht meine Eltern), die mich glücklicherweise darin bestärkten.

 

spüren

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Neblig.

Nein, inhaltlich.

Doris will wissen, wie er war – dieser Kurstag, als sie am Abend telefoniert.

Ich erzähle von der engagierten Gruppe, die sich stark einbrachte und aufeinander einging. Ich erzähle von uns – meinem «schwedischen» Freund und mir -, wie wir es als erfahrenes, vertrautes Team mehrmals schafften, den vorgesehenen Ablauf kurzfristig umzustellen, um noch gezielter auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden einzugehen.

«Weisst du», sage ich freudig, «selbst am letzten Tag als Trainerin habe ich noch dazu gelernt.»

Wir erwähnen dabei fast gleichzeitig die Frau, die mir durch Dreharbeiten in einem Altersheim zur Freundin wurde und nun seit acht Jahren tot ist. Als ich damals die 94-Jährige einmal fragte, was das Leben ausmache, gab sie mir zur Antwort: «Nicht still stehen» – nicht aufhören, sich zu bemühen, weiterzukommen.

Damals war ich beeindruckt und dachte, dass «nicht still stehen» als Lebenshaltung erstrebenswert ist und heute glaub(t)e ich, diesen Funken zu spüren.

 

 

 

zugleich

Bevor ich dahin fahre, wo über 40 Jahre mein Arbeitsplatz war, finde ich noch Zeit, auf dem Internet zu verweilen, was auch immer wieder mal dazu führt, unglaublich viel Zeit dabei zu verschwenden, zu verbringen, zu verlieren … Oft werden es packende Entdeckungsreisen. Zum Beispiel bei «belysnaechte» – Tiefsinniges, Mehrschichtiges in Gedichtform:

er sah in die dünnen vorhänge menschen aneinander vergessen
er dachte das ist die zukunft
wir ernähren uns von den abschieden

lauten die drei letzten Zeilen von er wandte sich ab (ganzes Gedicht  unter: belysnaechte).

Und dabei fällt mir zur Geschichte von gestern ein, dass der Abschluss des Abschlusses auch der Abschied vom Abschied ist und jeder Abschied wiederum mit einem Anfang verbunden ist.

Jeder Moment ist Abschied und Zukunft zugleich.

 

 

ein Mal

Gestern traf ich meinen «schwedischen» Freund – dieses Mal im Fernsehen, weil ich wieder rückfällig bin. Er umd ich werden noch einmal einen Kurs durchführen, den wir vor Jahren zusammen entwickelt haben.

Wir kennen uns schon lange, weil wir denselben Arbeitgeber hatten. Und das Glück wollte es, dass wir während der letzten Etappe meiner Berufstätigkeit immer wieder gemeinsam Kurse durchführen konnten.

Unser Faden ist in all den Jahren nie geriessen, auch wenn er oft lose war – nicht zuletzt wegen seiner Wohnortwahl und dem damit verbundenen Umzug nach Schweden. Ist er in der Schweiz, treffen wir uns regelmässig – so wie vor einer Woche zum Nachtessen, von dem es noch eine Episode zu erzählen gibt, die sich fast am Ende unseres Zusammenseins abspielte.

Kurz vor dem Verabschieden verschwinde ich und als ich vom Ort «für Mädchen» zuückkomme, sitzt er am Nebentisch bei jemandem, den ich in diesem Moment der Begegnung als Kollegen aus früheren Zeiten erkenne. Die beiden reden übers Fernsehen.

Ihre Worte sprudeln, die Augen des andern leuchten.

Etwas später, als mein Freund und ich uns nochmals gegenübersitzen, frage ich nicht aus Spass, sondern allen Ernstes, ob der Kollege noch immer am Arbeiten sei? «Aber nein!», sagt er. «Der ist ja schon weit über 70!»

Beim Verabschieden in der Kälte, denke ich, dass mir das Abnabeln zum Glück recht gut gelungen ist und sage beim Umarmen, was mir ebenfalls durch den Kopf schwirrt: «So schön, dass der Abschluss vom Abschluss mit dir zusammen ist.»

Noch ein Mal.

Und erst jetzt wird mir bewusst, dass der zweite Satz dieses Textes auf eine entsprechende Präzisierung wartet: «Wir werden noch ein Mal den Kurs durchführen, den wir vor Jahren zusammen entwickelt haben. …»

Herbst

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Zugegeben das Bild des Baumes in seinem Herbstgewand ist nicht mehr top aktuell. Aber die Symbolik, die es verkörpert, gefällt mir einfach: das Leben in permanenter Bewegung.

Wer weiss, wie oft der Stamm – das eigene Leben – um einen weiteren Jahresring wächst und wie oft der Baum noch ergrünt. Und wer weiss, wann das letzte farbene Blatt auf den Boden fällt.

Niemand.

Dieses Bild, das ich an meinem letzten Arbeitstag im Herbst aufgenommen habe, liebe ich  ganz speziell wegen seiner interpretierbaren Aussagekraft; auch wegen seinem stillen Hinweis auf gelebte Achtsamkeit. Und auch weil die Geschichte von gestern, die Begegnung mit der Schneiderin, ins Heute nachhallt.

Kuss

Voraus schicken will ich, dass mir meine Schwester ganz wichtig ist. Mit ihr habe ich richtig Glück.

Wir kennen unsere Leben. Wir trauen uns. Wir begleiten und (unter)stützen uns. Jede trägt der andern Sorge, jede sorgt sich um die andere. Ja, ich könnte noch sehr viel mehr über sie erzählen. Einzelnes habe ich in meinen Geschichten ja auch schon erzählt. Zum Beispiel waren wir zusammen am Filmfestival in Locarno und in München. Zum Beispiel kroch ich als Kind zu ihr, der fünf Jahre älteren Schwester, ins Bett, um sie zu beschützen, wenn meine Eltern im Ausgang waren. Heute tauschen wir unsere Erfahrungen – auch was die Neuorientierung als Pensionierte anbelangt.

Weil sie mich so gut kennt, hat es mich besonders gefreut, dass sie mir auf «rückfällig», die Geschichte von gestern, ein kurzes Email schrieb «Betreff: Richtung gut». Und weil mir die Zeilen so gut tun, muss ich diese hier einfach wiedergeben. Keine Angst: Ich habe sie selbstverständlich zuerst gefragt, ob ich sie zitieren dürfe. «Aber sicher!», war ihre spontane Antwort.

Also – meine Schwester schrieb mir: «Liebe Schwester – Nun bist du in der Pensionierung einen grossen Schritt weitergekommen. Das freut mich. Das Sparprogramm, welches das Fernsehen auch noch umsetzen muss, wird bestimmt nicht zu Gunsten der Weiterbildung ausfallen. Mit anderen Worten noch mehr Oberflächliches. Ein dicker Kuss R.»

Ein dicker Kuss auch von mir, liebe Schwester.

rückfällig

Und schon wieder das «Café du Bonheur». Ja, auch dieses hat für mich etwas von einem Stammstisch.

Kurz nach halb neun Uhr schliesse ich die Haustüre und mache mich auf den Weg. Auf der Strasse empfängt mich ein klarer, kühler Morgen. Der Brunnen am Bullingerplatz plätschert fröhlich. Der Kaffeeduft umhüllt mich wie ein feiner Seidenschal – auch wenn’s ihn hier noch nicht gibt und es nur meine Vorstellung ist.

Liebend gerne würde ich mich jetzt zu den Gästen setzen, aber ausgerechnet heute geht es nicht. Spinnt’s mir, frage ich mich und als Antwort summt mir der Kinderreim durch den Kopf: «Dä Hans-Dampf im Schnäggeloch hätt alles, was er will. Und was er will, das hätt er nöd, und was er hätt, das will er nöd.»

Wie oft habe ich über verlorene Strukturen und nicht mehr eingebunden sein gesprochen. Wie oft habe ich dies vermisst. Und ausgerechnet heute, wo ich eine «rückfällige» Pensionierte bin, wäre ich lieber eine «wirklich» Pensionierte.

Mein Kollege und ich bereiten für Ende September einen dreitägigen Kurs vor, den wir in den vergangenen Jahren zusammen für Fernsehen und Radio entwickelt haben. Wir treffen uns, so wie früher auf der sogenannten Piazza zum Kaffee und datieren uns erst einmal über unsere Leben auf.

Ich sehe Gesichter, höre Geschichten und denke, die Alten haben ausgedient, sie gehören mit ihren ethischen Ansprüchen zur Kategorie «Auslaufmodell». Weniger weil sie alt sind, vielmehr weil sie für alte Werte einstehen – Vertiefendes statt Oberflächliches. Ich sage zu meinem Kollegen: «Zum Glück kann uns unsere Erinnerung niemand nehmen.» Louise Bourgeois hätte dazu noch den Satz gestellt: «Sie sind unsere Dokumente.»

Nach der ernsthaften, aber lustvollen Vorbereitung, fahre ich mit meinem Kollegen Richtung Stadt. Résumierend sage ich: «Die Rückfälligkeit hat gut getan. Die Wehmut, die mich während der letzten Arbeitstage vor der Pensionierung befallen hat, ist glücklicherweise nicht zurückgekehrt.»