Ich wusste, auf meine Schwester ist Verlass. Sie hat, nachdem sie meine Geschichte zu «Moment» gelesen hatte, tatsächlich telefoniert und mir gratuliert: «Du bist richtig gut unterwegs!», sagte sie. «Sich von Zwängen zu lösen, ist die Qualität des pensioniert Seins!»
Sie meinte damit den Tag, als ich mein vorgesehenes Tageskonzept über den Haufen warf, mich urplötzlich fürs Rudern zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit entschied und daraufhin erst noch nicht den Zug bestieg, den ich eigentlich wollte. An diesem eben beschriebenen Tag, erinnerte ich mich, als ich erst einige Züge später unterwegs nach Zürich war, des Öftern an Reimer Gronemeyer’s «Alt werden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann». Es war nicht das erste Mal, dass mir seine Überlegungen als Gedanken durchs Hirn flossen. Schon in der Woche davor, als ich mich kurzerhand entschloss, nicht länger im Büro zu verharren, sondern an den Bodensee zu reisen. Der Auslöser für mein «Auf und Davon» war damals meine Sehnsucht nach Doris und nicht etwa Gronemeyer’s Epilog, an den ich mich in diesem Moment erinnerte – aber auch, um ehrlich zu sein.
In seinem Buch schreibt er unter anderem über den Lebensabschnitt, in dem ich mich jetzt befinde: «Es geht nicht um einen Weg, der uns von einem nachdenklichen, unsere Sinne vertiefenden Alter «ab-lenkt». Es geht nicht darum, den Sinnenfreuden dieser Welt zu entsagen und sich in eine Eremitenklause zu verkriechen. Vielmehr geht es darum, das Leben nicht dadurch zu versäumen, indem man sich der Ablenkung verschreibt.» Weiter heisst es: «Wie schön dieses Wort «versäumen» ist. Es kommt aus der einfachen Tätigkeit des Nähens, bei dem man den Saum falsch nähen kann, man versäumt sich. Man kommt vom Wege ab. So kann man das Altwerden versäumen.»
Nicht vom Weg abkommen, sich nicht ablenken und dennoch nicht Leben und Altwerden versäumen – eine anspruchsvolle, herausfordernde Kunst, die ich fortan versuche, in meinem Alltag umzusetzen, so als ob es nichts Einfacheres geben würde.