In der Zürcher Vorortsgemeinde, dem Lebensmittelpunkt meiner Kindheit und Jugend, steige ich aus dem Zug. Ich treffe meinen Schwager. Wir haben in demjenigen Lokal abgemacht, in dem meine Eltern, als sie pensioniert waren, viel Zeit verbrachten. Meine Mutter ass ein Birchermüesli, schaute meinem Vater zu, wie er sich energisch, hörbar durch die Zeitungen blätterte und freute sich, wenn er ihr daraus das Interessanteste vorlas. So jedenfalls glaube ich die Erzählung der beiden gehört zu haben.
Das Kaffee, dessen Innendekoration sich heute aus einem Gemisch von Aglo-Kitsch und Voodoo-Zauber präsentiert, spielte nicht nur im Leben meiner Eltern eine Rolle. Es ist auch Handlungsort in Melinda Nadj Abonjis Roman «Tauben fliegen auf», für den sie sowohl den schweizerischen als auch den deutschen Buchpreis erhielt. Als ich das Buch vor wenigen Jahren las, fragte ich mich immer – könnte einer der beschriebenen Gäste auch mein Vater sein.
Im realen Leben – heute am Tag, als ich meinen Schwager treffe -, sitzen vier alte Männer am Nebentisch. Sie sind so vertraut im Umgang, wie sie nur sein können, wenn sie sich regelmässig treffen. Sie reden von früher, vom Reisen – vor allem vom exotisch Kulinarischen: Von Seegurken -«schrecklich im Geschmack», von Fischen – «schauderbar fasrig», von Schildkröten – «klein geschnitten ist das Fleisch saftiger». Und der eine, der am Fenster sitzt, übertrumpft alle andern. Er erzählt vom «Neger», der mit einem langen, angespitzten Stecken auf Jagd ging.
Damals, als ich Nadj Abonjis Roman las, in dem dieser Ort «Café Mondial» genannt wird, entdeckte ich Gemeinsamkeiten mit der Protagonistin. Deren Familie kam mit Kindern als Emigranten ins neue Land und glaubte sich durch Unscheinbarkeit in den schweizerischen Alltag einfügen zu können. Bei uns war es ähnlich – allerdings mit dem Unterschied, dass meine Eltern (beide mit Schweizer Wurzeln), den Aufstieg von der Arbeiterklasse in die Mittelschicht schafften. Dieser Schritt ging einher mit sozialer Unauffälligkeit. Darum hatten auch nur die andern Recht. Wir nie. Meine Schwester und ich hatten jedenfalls lange, bis wir uns daraus befreiten.
Ein Glück, können Tauben auch fliegen.