einmischen

Dass sich mehr Menschen fürs Referendum in der Türkei und damit für demokratische Einschränkungen entschieden haben, ist eine Sache. Eine für mich nicht nachvollziehbare Tatsache.

Nicht nachvollziehbar ist für mich auch, dass ich in analysierenden Interviews in «meinen» Zeitungen unter anderem lese, dass es falsch war, im Vorfeld der anstehenden Abstimmung auf die Provokationen der Politiker des JA-Lagers zu reagieren und dezidiert auf Gefahren der Machtanhäufung hinzuweisen.

Dabei war schweigen, sich nicht einmischen, wegsehen noch nie die bessere Lösung.

«Freiheit ist ein Wort, das niemals schweigt.» Mit diesem Satz endet eine Kolumne von Asli Erdoğan, die sie im März 2016 schrieb – noch bevor ihre Zeitung «Özgür Gündem» verboten wurde, bevor sie für vier Monate im Frauengefängnis war, bevor ihr der Pass weggenommen wurde, bevor sie ihr definitives Urteil kennt, das im schlimmsten Fall «lebenslängliche Haft» bedeutet.

Von Asli Erdoğan, die gegen Willkür und Unterdrückung schrieb, als sie dies noch konnte – vielleicht noch immer einen Weg findet, dies zu tun –, lese ich den eben erst auf deutsch erschienen Essayband «Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch». Darin steht auch der Satz «Freiheit ist ein Wort, das niemals schweigt».

(Link zu Asli Erdoğan Essayband und zu einem hörenswerten Radiobeitrag.)

 

 

 

zwei

Ich weiss, heute ist der 12te Tag des Monats. Doch die «2» beginnt schon früh, meinen Tag zu bestimmen.

Im Schrank, wo mangels Stauraum Staubsauger, Putzmittel, wenige Flaschen Wein und sonstiger Ramsch versorgt sind, entdecke ich beim optimierten Stapeln, dass ich auf meinem Einkaufszettel nie hätte «Putzessig» schreiben und diese Erinnerung schon gar nicht hätte umsetzen müssen. Denn da steht bereits eine Flasche – und, im Gegensatz zur neuen, erst noch die ökologischere Variante.

Die neue bringe ich zu einem andern Schaft, der zwar nur für Schuhe gedacht war, inzwischen aber auch schon Doppeltes von irgendetwas hortet.

Danach folgt eine Runde staubsaugen, bevor ich in meinem Büro verschiedenes erledigen will.

Auf dem Weg in den Keller, zu meinem Fahrrad aus dem Laden «2Rad» fällt mir ein, dass ich doch noch Käse fürs Picknick auf der städitischen Wiese, wo am Mittag gespielt, gegessen wird, mitnehmen wollte. Also: Zurück und neu starten. Doch dem Reset folgt ein zweites Umkehren. Denn ohne meine beiden Ringe, die ich über Nacht jeweils ausziehe, fühle ich mich tagsüber nackt.

Nun sitze in meinem Büro, von der Wand grüsst Maria Lassnigs alte Frau. Mahnt sie? Grüsst sie diabolisch oder gar schwesterlich im Wissen, dass je älter man wird, sich die «Zwei» immer wie mehr im Lebensalltag einnistet?

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einander finden

«Nur noch mit Antidepressiva» – unter diesem Titel ist im DAS MAGAZIN vom vergangenen Samstag (8. April 2017) ein Interview mit der Schriftstellerin Elif Shafak über Erdoğans Türkei zu lesen.

Bevor ich einen ihrer Gedanken aus dem Interview zitiere, noch kurz etwas zur Protagonistin.

Elif Shafak ist 45-jährig. Sie ist die Tocher einer Diplomatin, wuchs unter anderem in Strassbourg, Madrid, Köln, Amman, Boston, Arizona, Ankara und Istanbul auf. Heute lebt die Schriftstellerin, die meistgelesene türkische Gegenwartsautorin, in London. Unter anderen erschien auf deutsch ihr politischer Roman «Der Bastard von Istanbul». Auch ich las ihn.

Im gegenwärtigen politischen Klima wagt Elif Shafak keine Reise in die Türkei.

Im MAGAZIN spricht sie über einen Humanismus, der über nationale, religiöse und ethnische Grenzen hinausweist. Die Interviewerin will deshalb von Shafak, der Weltbürgerin, wissen, ob diese Vorstellung nicht utopisch sei.

Ihre Antwort: «In dem Gedicht „Masnavi“ des persichen Dichters Rumi entdeckt ein Gelehrter einen Vogelschwarm und ist irritiert, dass Vögel verschiedener Arten zusammen unterwegs sind. Er sieht, dass einer am Flügel verletzt ist, ein anderer am Schnabel, wieder einem anderen fehlen Federn und so weiter. Dann begreift er: Die Vögel konnten in ihrer Gruppe nicht mehr mithalten, fühlten sich allein und fanden schliesslich zueinander. Dieser Zusammenhalt stärkte sie mehr als die Zugehörigkeit zu ihrer Art. Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die sich nicht über ihre nationale oder religiöse Zugehörigkeit definieren. Sie müssen einander finden. Die Probleme der einzelnen Länder betreffen uns alle.»

(Wer sich für den ganzen Artikel interessiert – hier der Link)

 

Dranbleiben

Übrigens gestern schrieb ich über meine 84-jährige Freundin, die in Florida lebt. Botschaft hiess die Geschichte.

Und der Zufall will es, dass ich von ihr gerade heute eine weitere Botschaft erhielt, eine weitere Ausbeute ihres täglichen Durchforstens und Suchens nach kleinen Hinweisen, die den Tag bereichern können.

Gestern war es der Link zu einem Video. Zu sehen ist Joan Baez, die sich an der Gitarre begleitet, ein Lied singt über den «nasty man», den laut Übersetzung «hässlichen», «widerlichen», «boshaften», «schlimmen» Mann, der seit Januar ihr Land destruktiv regiert.

Ich bin begeistert. Auch über den Fakt, dass sich die 76-jährige Joan Baez noch immer einmischt! Trotz Horrormeldungen aus Syrien, trotz Ohnmacht …

Das Video stellt mich auf. Es zeigt mir, dass Joan Baez, die Friedensaktivistin, dranbleibt und auch, dass es wichtig ist dranzubleiben, selbst wenn die «Grossen» fast schon täglich die sogenannt rote Linie überschreiten.

Der Tropfen der «Kleinen» auf den heissen Stein ist und bleibt wichtig, weil er motivierend wirkt und weil selbst Steine irgendwann einmal nass werden.

Botschaft

Mit meiner 84-jährigen Freundin, die in den USA lebt, kommuniziere ich oft via Messenger von Facebook. Wir, besser gesagt: sie mehr als ich, hat die Angewohnheit, mir Links zu Spannendem zu schicken.

Das hat sich so ergeben. Als ich sie anfangs Jahr in Florida besuchte, war gerade die Inauguration des Mannes, der anders Denkende, Farbene und Frauen ausgrenzt. Trump, der auch viel Integratives seines Vorgängers wieder aushebelt oder es zumindest versucht.

Zu dieser Zeit, als die diskreditierenden Aussagen täglich die Presse füllten, sassen wir jeweils zu Dritt am Frühstückstisch. Jede schaute in ihr Smartphone, jede blätterte sich durch die News, jede teilte mit, wenn sie durch das Gelesene mitteilungsbedürftig wurde – und dies war oft der Fall. Aus jener Zeit kommt also das Bedürfnis des Austauschens – auch jetzt, wo ich schon längst wieder in der Schweiz bin und sie am Morgen wieder alleine am Tisch sitzt und sich aufdatiert.

Unlängst schickte sie mir den Link zu einem Video und schrieb dazu, dass ich es bis zu seinem Ende anschauen soll!

Was für eine Bemerkung!

Das Video zeigt einen Violonisten in einer U-Bahn-Station. Er spielt zur Rush Hour Stücke von Bach. Kaum jemand hält inne, um zuzuhören. Kaum jemand spendet Geld, nach 45 Minuten sind es 32 Dollar.

Der vermeintliche Bettler ist Joshua Bell, der schon mit allen bedeutdenden Orchestern aufgetreten ist. Der geschätzte Wert der Violine, die er im Untergrund bespielt: 3,5 Millionen Dollar. Zwei Tage zuvor, so heisst es im Video, spielte der 50-jährige Musiker in Boston vor ausverkauftem Haus. Durchschnittlicher Eintrittspreis: 100 Dollar.

Offensichtlich benötigen wir für eine adäquate Aufmerksamkeit den anerzogenen, gelernten, sozialisierten Rahmen, um uns berühren oder uns auf etwas einzulassen.

Deshalb ihre Bemerkung.

Was verpasse ich? Was entgeht uns, wenn etwas ausserhalb des dafür vorgesehenen Kontextes passiert?

Die Vermutung liegt nahe.

Jedenfalls danke ich meiner Freundin für dieses knapp zweiminütige Video. Deshalb schreibe ich ihr, dass mich ihre Botschaft daran erinnert, wieder vermehrt Achtsamkeit zu lernen.

Prinzessin

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Ich frage mich, welche Prinzessin steckt hinter dieser Prinzessin. Ich frage mich ebenfalls, ob ich auch einmal Prinzessinnen aufs Pflaster kritzelte — verbunden mit welchen Wünschen …  mit welchen Träumen … Vielleicht sind sie heute nicht viel anders als damals.

Wer weiss

Heute ist der 29. März 2017.

Warum hast du es nicht einfach gesagt? Mir fehlte das Wort.

Mit diesem Satz beginnt mein Blog vom 28. November 2016. Das war das letzte Mal, dass ich fast täglich zu/für/bei dauerferien schrieb, meinem Blog, der mich von der Arbeitswelt in das Leben der Rentnerin führte.

Und danach, nach «Appell», blieb ich stumm.

Blog- und andere Freundinnen haben die Pause beachtet, darauf reagiert oder es komentarlos, einfach so hingenommen.

Habe ich nichts mehr zu sagen?

Eigentlich nicht.

Im richtigen Leben bringe ich mich ein.

Im virtuellen Leben fehlen mir immer wieder mal die Worte. Beziehungsweise, finde ich meine Worte und Gedanken in Anbetracht dessen, was sich weltweit abzeichnet zu banal. Was sagen/schreiben, wenn sich zum Beispiel vor unseren Augen ein Land, das sich zur Demokratie hin entwickelte, sukzessive zu einer Diktatur wird? Wenn Recht legal ausgehebelt werden kann? Wenn Menschen ohne Prozess oder mit einem Prozess, angewandt wie zu faschistischen Zeiten, in Gefängnissen verschwinden, gefoltert werden, um für Demokratie und Freiheit Kämpfende klein zu machen, um ihnen die Würde aus dem Körper zu peitschen? Ob die Mehrheit der Bevölkerung dieser Entwicklung zustimmen wird, zeigt sich Mitte April, wenn dort, wo ich die Welt nicht mehr verstehe, übers Referendum abgestimmt wird.

Dies und noch viel mehr wälzt sich in meinem Kopf. Was soll ich da von meinen Beobachtungen aus dem Alltag einer Frau in dauerferien schreiben?

Doch heute mache ich es, weil mir gerade heute Myriade, eine Bloggerin, folgenden Satz schenkte: «Ich erfreue mich unverdrossen auch an Belanglosigkeiten.»

Wer weiss

 

 

 

Appell

Weshalb hast du es nicht einfach gesagt? Mir fehlte das Wort.

Dadurch nimmt die Begebenheit ihren Lauf und endet, wie es nicht gewollt war.

Nikolaus Habjan, der Das Missverständnis von Albert Camus für die Bühne mit Figuren inszenierte, wird im Programmheft gefragt, was diese vom Autor als überzeitliche Schicksalstragödie konzipierte Fabel uns heute vermittelt.

Seine Antwort.

«Die Botschaft ist zeitlos: Sag klar, wer du bist und was du willst, dann hast du die Chance, es zu bekommen. Übernimm die volle Verantwortung. Überlässt du dich jedoch einer höhren Macht, Gott, einem Regime oder dem Schicksal, dann verlierst du deine Handlungsspielräume, und im schlimmsten Falle gehst du und alle um dich herum zugrunde. Ein sehr positiver pragmatischer, wenn auch gnadenloser Appell.»

 

Nachlass

An diesem Morgen der irgendwo – am Anfang? am Ende? mitten drin? meiner dauerferien steht, packt es mich, über etwas zu schreiben, das schon einige Zeit zurück liegt.

Wir – Doris und ich – stehen an einem Samstagabend  in der Eingangshalle des Zürcher Schiffbaus, was ein Satellitenort des Schauspielhauses ist. Hier finden jeweils aussergewöhnliche Inszenierungen statt, weil im Schiffbau, wo zu bereits vergessenen Zeiten einmal Raddampfer gebaut worden sind, alles so gross und archaisch ist.

Wir warten, dass die Schiffshörner zum Einlass hupen. An diesem Abend zur Installation des Autorenteams «Rimini Protokoll» – eine Inszenierung ohne anwesenden Personen, bei der es in acht Zimmern ums Thema «Nachlass» geht.

Wir stehen, wie bereits schon geschrieben, an einem Bartisch, und machen uns, zusammen mit einem Bekannten, der ebenfalls für dieses Stück gekommen ist, Gedanken. Einerseits, was wir, wenn es uns nicht mehr gibt, zurücklassen und andrerseits, was uns unsere Väter hinterlassen haben.

«Viel Geld», sagt er als erstes. Da mir dies bekannt ist und das, was ich eigentlich wissen wollte, interessanter finde, präzisiere ich und frage nach der Prägung, die die Ich-Ausrichtung beeinflusst(e).

Das Unternehmerische habe ihm sein Vater auf den Weg gegeben. Bei Doris ist es der Glaube, dass auch Unmögliches möglich werden kann, wenn man bereit ist, für dieses Ziel hart zu arbeiten. Bei mir ist es das Kämpferische. Nicht etwa, dass mir mein Vater diesbezüglich Vorbild war. Nein, er schaffte seinen Aufstieg in die Mittelschicht durch Anpassung an die Norm. Und daran rieb ich mich mit ihm. Während meines Erwachsenwerdens fast permanent. Ich kämpfte für meine Überzeugung, die nie die seine war. Und dies wiederum führte unter anderem zur Herausformung, für seine, bzw meine Haltung hinzustehen. Letztlich ermöglichte mir dieses Kämpferische mein Coming-out – ein Leben am Licht leben zu können, das im populistischen Trend von «wir sind das Volk» wieder in Frage gestellt wird, weil es nicht der von ihr definierten Norm entspricht.

Ausgangspunkt meiner Gedanken war eigentlich der Theaterabend zu «Nachlass» und gelandet bin ich bei der Erkenntnis, dass es in der Auseinandersetzung um Demokratie kein nachlassen erträgt, was letztlich auch ein Nachlass ist.

 

Farbigkeit

Auftauchen aus vergessenen Träumen, orientierungsloses ankommen in der Wärme – das  Wärmende, Orientierende kommt von Doris. Ich bin nicht mehr in Marokko.

Zu Hause.

Ich habe bereits viel erzählt. Und nun habe ich auch die Antwort auf die Frage, die ich meiner Schwester damals, während unseres gemeinsamen Zusammenseins im Café Montreal am Hauptplatz von Marrakech nicht beantworten konnte. Nun weiss ich, was ich von Marroko mitnehme.

Ruhe. Erinnerungen an in sich ruhende Menschen. Interessiertes aufeinander Zugehen und voneinander wissen wollen.Toleranz.

Von all den Geschichten und Begegnungen aus denen sich letztlich ein Bild einer Kultur in einer mir bis anhin verborgenen Farbigkeit ergab, erzähle ich zu Hause, ausführlicher als in meinen vor Ort geschriebenen Bloggeschichten; freudig gefüllt von all dem Erlebten.

Dies will ich mir bewahren – trotz Ernüchterung nach dem Sonntagabend Talk «AnneWill» auf der ARD zum Thema «Mein Leben für Allah – warum radikalisieren sich immer mehr junge Menschen?». Die Runde zeigt: Extremes verunmöglicht das Gespräch. Extremes verhindert Gemeinsames. Extremes erstickt Verständnis.

Ich wehre mich, dass dieses inzwischen den europäischen Alltag prägende Bild alles übertüncht – auch meine eben erst zurückgebrachte, erfahrene Farbigkeit.