Ich wandere mit Doris durchs Dorf in den Bündner Bergen. Sie hat einige Tage frei und ich, die Pensionierte in Dauerferien, finde es toll, dass wir zusammen dort sind, wo wir vor zwei Jahren schon einmal miteinander waren: in Splügen – ein Ort am Hinterrhein mit vier Hotels, einigen Bauernhöfen, einem Sportgeschäft, einer Molkerei, einer Metzgerei, einer Posthaltestelle. Langer Aufzählung kurzer Sinn: ein halbwegs intaktes Dorf – ganz nach unserem Geschmack, nicht zuletzt weil wir hier mit den Schneeschuhen durch die verschneite Gegend schlarpen können. Auf unserem frühmorgendlichen Dorfrundgang sind wir auf der Suche nach Veränderungen und finden bei dieser Kälte, etwas, das wir beide schon lange nicht mehr gesehen haben. Es ist eine Reminiszenz an unsere Kindheit – die Eisblumen am Fenster und sinnigerweise hat sich dieser Winterzauber das Fenster des Antiquriats ausgesucht.
Monat: Januar 2016
Schneebild
Splügen, 17.1.2016
eingraviert
Spontan telefoniere ich meinem Arboner Freund und mache mit ihm ab – in 20 Minuten im Restaurant «Sternen». Es ist ein typischer Landgasthof mit seinem eigenen Charme, den ich liebe – vor dem Haus der Bahnhof und die Geleise, dahinter eine stillstehendes Fabrikgebäude.
Vor der Tür steht die Servierfrau, schlotternd. Sie komme gleich.
Kein Stress. Sie könne die begonnene Zigarette in aller Ruhe zu Ende rauchen.
Der «Sternen» kannte bessere Zeiten. Früher sassen hier die Arbeiter der nahegelegenen Mosterei. Doch inzwischen hat der Betrieb dicht gemacht und im Lokal ist es entsprechend ruhiger.
Wie ein Wahrzeichen leuchtet vom Boden, was ein Stühlerücken notwendig machte: All die Geschichten – fröhliche, alkohlgeschwängerte, traurige, tragische, erfolgreiche -, die man sich am runden Stammtisch erzählte. Ebenfalls eingraviert sind die kummervollen – ausgelöst durch das Ende des Mostereibetriebs.
Draussen zwängt sich der Wintersturm durch die Ritzen, als ich drinnen fotografiere.
Es wimmert und singt, als ob der Boden das Erzählen übernommen hätte – der Freund führt mich in seine neue Werkstatt. Sie ist in der alten Mosterei, wo die Stammtischgeschichten, die sich im «Sternen»-Boden eingraviert haben, ihren Anfang nahmen.
Armlänge
©M.J. Rose
Heute habe ich auf der Facebook-Seite meines schwedischen Freundes dieses Bild entdeckt! Er wiederum hat den Link geteilt. Publiziert wurde das Foto ursprünglich von M.J. Rose. Sie schrieb dazu: «That makes me cracy and sad».
Mir wiederum gefällt die Symbolik dieses Bildes.
Schon oft fragte ich mich, ob die Wahrnehmung der Welt weiter als eine angewinkelte Armlänge weit reicht?
Waschküche
Und dieses Mal bin ich der Nachbarin, die mir noch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens schuldet, in der Waschküche begegnet. Sie räumt den Tumbler aus, als ich meinen Berg am Sortieren bin.
Währenddessen ich die schmutzige 40-Grad Wäsche in die Trommel stopfe, frage ich: «Und? Wie lautet die Erkenntnis deiner Psychiaterin?»
Sie holt aus, erklärt mir, worüber wir damals sprachen. Dabei kommt sie nochmals auf die Agenda mit dem Termin befreiten Rahmen zu sprechen, in der die Tage wie eine leere Leinwand vor einem liegen.
All dies will ich in diesem Moment nicht hören. Statt einzuhacken, sage ich leicht fordernd: «Und! Sag schon!»
Sie meint, es sei ganz banal.
Ja! Wie denn!
Nur ein Satz …
Ja!!
Der Sinn des Lebens ist «das Leben». Schnell und überzeugend habe ihr die Psychiaterin damals geantwortet.
Aha!?
Wir sind uns letztlich einig, dass es für uns etwas Entlastendes haben kann, wenn der Sinn des Lebens NUR «das Leben» an und für sich beinhaltet. Einfach Leben – ohne Limiten, die erreicht werden müssen. Auch ohne Vorgaben. Nichts, das verpasst werden kann. Nur dem eigenen Sinnstiftenden genügen genügt.
Für uns vielleicht schon. Denke ich an Marceline Loridan-Ivens, die Autorin von «Und du bist nicht zurück gekommen», kommen mir Zweifel.
Und um ehrlich zu sein: So einfach die Erkenntnis «das Leben» klingen mag, weiss ich schon beim Verlassen der Waschküche, dass mich dieses Leben tagtäglich von Neuem herausfordern wird. Wir beenden deshalb unser Gespräch vorerst einmal. Jedenfalls setzen wir den Gesprächspunkt bevor wir uns befähigt fühlen, einen abschliessenden Punkt hinters Thema zu setzen.
Gedicht
Kommt
ich will euch
auf meine warmen
Fingerspitzen
setzen
Schmetterlinge im Winter.
(Hilde Domin)
weshalb
«Ich wollte den Spiegel durchstossen, einen Durchgang schaffen, die Vorstellungskraft derer erreichen, die nicht dort gewesen sind», schreibt Marceline Loridan-Ivens in ihren Erinnerungen an das Massenvernichtungslager in Birkenau.
Sie war 15-jährig, als sie und ihr Vater von den Nazis aus Frankreich nach Auschwitz und Birkenau deportiert worden sind. Sie überlebte den Holocaust, ihr Vater nicht.
70 Jahre später schreibt Marceline Loridan-Ivens dem Vater, der in Auschwitz umgebracht worden ist, einen Brief in Buchform – «Und du bist nicht zurückgekommen». Darin erzählt sie von den Erinnerungen ans Konzentrationslager, vom erlebten Grauen, von der Unausweichlichkeit der eigenen Verrohung, vom Geruch des brennenden Fleisches und fragt sich, «wie etwas übermitteln, was wir uns selbst kaum erklären können?»
Sie, die nicht mehr gewachsen ist, nachdem sie ihren Vater ein letztes Mal sah, erzählt auch von der Rückkehr – vom Leben als Überlebende nach dem Leben zwischen Stacheldraht und Krematorium; vom gebrochenen Weiterleben in einer Welt, die nichts von all dem Schrecken hören will.
«Meinst du, dass wir gut daran taten, aus den Lagern zurückzukommen?», fragt die inzwischen 86-Jährige im Buch ihre Schwägerin, ebenfalls eine Überlebende. Deren Antwort ist ernüchternd. «Ich glaube nicht.» Die Autorin beantwortet auf Grund ihrer Erfahrungen dieselbe Frage ähnlich, aber dennoch nicht ganz so pessimistisch. «Ich bin nicht weit davon entfernt, so zu denken wie du», schreibt sie. «Aber ich hoffe, dass ich, wenn mir die Frage, kurz bevor ich abtrete, gestellt wird, werde sagen können, ja, es hat sich gelohnt.»
Das Buch «Und du bist nicht zurückgekehrt» ist nach dem gestrigen Film – «Als die Sonne vom Himmel fiel» – ein weiterer eindringlicher Appell an die Menschlichkeit. Doch weshalb kommt sie tagtäglich abhanden?! Geht sie tagtäglich vergessen?!
weitergeben
Zukunft ist, wenn die Vergangenheit nicht vergessen geht.
Diese eindringliche Botschaft leben die 93-jährige Chizuko Uchida und der 98-jährige Shuntaro Hida, indem sie sich tagtäglich gegen das Verdrängen der zerstörerischen Wirkung der Atomkraft stellen. Die beiden haben damals, als die Atombombe das Leben in Hiroshima zerstörte, die katastrophalen Folgen als Krankenschwester und als Arzt erlebt. Kein weiteres Mal soll so etwas geschehen.
Selbst wenn ihr Einsatz wie ein Tropfen auf einen siedend heissen Stein ist, geben sie nicht auf, diese Vergangenheit der Zukunft zu erhalten; würdevoll und überzeugend ihre Haltung. Auch dank dessen, dass sie in Aya Domenig eine Filmautorin gefunden haben, die in der Aufarbeitung ihrer eigenen japanischen Wurzeln, den Appell der beiden Überlebenden an die Menscheit in «Als die Sonne vom Himmel fiel» weitergibt.
Paul Bley
«Ida Lupino» ist ein Stück, das ich mir immer wieder anhöre. Es ist wie Honig für die Seele. Komponiert hat es der experimentierfreudige Paul Bley, der am vergangenen Sonntag 83-jährig verstorben ist. Benannt hat der Pianist das sieben minütige, improvisierte Stück nach der Schauspielerin, die sich im Hollywood der Vierziger auf die Gestaltung attraktiver, aber komplizierter und eher unsympathischer Charakteren verstand.
Und weil ich Bley zusammen mit seiner ersten Frau Carla Bley in Zürich schon verschiedentlich spielen hörte, lese ich erst recht aufmerksam den Nachruf in der Süddeutschen Zeitung. Thomas Steinfeld schreibt darin über «Ida Lupino», wie man es nicht schöner formulieren könnte: «Ein Blues rollt darin im Hintergrund, und auch die Melodie scheint aus dem Repertoire der gängigen Unterhaltung zu stammen. Aber dann bricht sie plötzlich ab, ein paar Töne bleiben zurück, die sich, als hätte sie plötzlich ein tiefer Zweifel ergriffen, nach einem neuen tonalen Zentrum umzuschauen scheinen.»
Dieserr eine Satz «… ein paar Töne bleiben zurück, die sich, als hätte sie plötzlich ein tiefer Zweifel ergriffen, nach einem neuen tonalen Zentrum umzuschauen scheinen», der wie in der Musik ein einzelner Ton das Rundum bracht, um zur Geltung zu kommen, begeistert mich vor allem.
Und beim Weiterlesen gibt es nochmals ein Arrangement, das mir einerseits gefällt und mich andrerseits eine musikalische Perle entdecken lässt, die ich mir sogleich runterlade: «Far North» – 2014 erschienen und 40 Jahre nach «Ida Lupino» bei einem Konzert in Oslo entstanden: «Zuerst sind da Akkordblöcke, die wie gestückelt daherkommen, dann entspinnt sich eine Melodie daraus, und es wechseln die Stimmungen, und siebzehn Minuten lang bleibt nichts, wie es war.»
Nur schon deswegen kaufe ich mir das Album, weil ich wissen will, wie sich «nichts bleibt, wie es war» anhört.
Anschluss (2)
Als der eine Freund es dem andern Freund erzählte, worüber ich mich sorge, ging dieser – in München wohnend – schnurstracks zur Adresse, wo ihr gemeinsamer Freund wohnt(e?), dessen Telefonanschluss ausser Betrieb ist.
Er klingelte – der Gesuchte öffnete und freute sich über den überraschenden Besuch. Alles war wie immer, wenigstens für ihn.
Nichts von dem, was wir uns vorgestellt hatten, traf zu – auch nicht, dass er sich den Anschluss nicht mehr leisten konnte. Er schob einfach nur das Unterschreiben des neuen Telecomvertrages vor sich her. Aber auch dieses Phänomen ist bei ihm nichts Aussergewöhnliches.
Zum Glück; nur das.
Nun schreibe ich ihm eine Karte – auch von dort, von wo ich jeweils telefonierte, bis dass die computerisierte Frauenstimme mitteilte «dieser Anschluss ich nicht mehr in Betrieb».